Im Gegensatz zu der in der Historiographie weit überwiegend vertretenen Auffassung, die Labour Party habe sich w e g e n ihrer auf "Burgfrieden" und Integration zielenden, w e g e n ihrer Regierungsbeteiligung und w e g e n ihres (aufgeklärten) Patriotismus 1914/1918 von einer an Brot und Butter orientierten gewerkschaftlichen Interessenvertretung zu einer politischen Partei mit Machtanspruch und umfassendem Programm gewandelt, vertritt Klepsch die Auffassung, diese Wandlung habe sich t r o t z Burgfriedenspolitik und Regierungsbeteiligung vollzogen, und zwar in einem P r o z e ß unter dem Druck der radikalisierten und politisierten Arbeiterschaft. Als Antriebskräfte dieses Prozesses lassen sich in etwa zusammenfassen: schwindende Kriegsbegeisterung und Wandel von unreflektiertem zu reflektiertem Patriotismus, wachsende Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen und sozialen Lage, im Bewußtsein der Höhe des geleisteten Beitrages zum Krieg begründetes, steigendes Selbstwertgefühl, aufkommendes und stärker werdendes Verlangen nach mehr sozialer Gerechtigkeit und Demokratisierung von Politik und Wirtschaft, zunehmende Protest- und Aktionsbereitschaft.
Klepsch breitet seine These auf der Grundlage einer imponierenden Fülle bislang noch nicht entsprechend ausgewerteten Quellenmaterials aus: Archiv der Labour Party, PRO-Bestände der Ministerien für Munition, Arbeit und Inneres (wichtig für die Kenntnis der Lage an der "Heimatfront"), Kriegskabinett, Foreign Office etc. Abgerundet wird die Materialbasis durch private bzw. halb-offizielle Sammlungen verschiedener Institutionen. Feststellungen und Bewertungen des Autors sind jeweils detailliert nachgewiesen. Nach der Einleitung beleuchtet Klepsch die Voraussetzungen, Grundzüge und Grenzen des "political and industrial truce", er untersucht sodann die Beziehungen zwischen der organisierten Arbeiterschaft und der Kriegsadministration - mit der Regierungsbeteiligung als Kernstück von Labours Burgfriedenspolitik -; Gegenstand des nächsten Kapitels ist die Opposition gegen den offiziellen Labour-Kurs sowie die Radikalisierung und Politisierung des "rank and file"; im letzten Kapitel vor der Schlußbetrachtung versucht Klepsch zu zeigen, warum die Labour-Spitze bis zum Waffenstillstand auf eine konstruktive Oppositionspolitik und auch darauf verzichtete, Gegengaben der Regierung für die Opferbereitschaft der Labour-Klientel zu erwirken - obwohl, so Klepsch, die Basis die Labour-Führung 1917 gezwungen habe, ihre "bedingungslose Burgfriedenspolitik" zu überprüfen.
Folgt man Klepsch, so waren die von Labour gestellten Minister und Staatssekretäre (nur) willige Werkzeuge in den Händen des konservativen oder liberalen Establishments, die die ihnen vermeintlich einzig zufallende Rolle ausfüllten, nämlich den vom "rank and file" ausgehenden Druck aufzufangen und abzuschwächen. Notwendigerweise mußte der von der Führungsgruppe um Henderson verfolgte Kurs: neues Statut, neues Programm, Gewinnung politischer Eigenständigkeit bei gleichzeitiger Integration, Teilhabe am Regierungsgeschäft und Unterstützung der Kriegsanstrengungen, Widersprüche und Ungereimtheiten hervorbringen, mußte es zu Konflikten zwischen "rank and file" und Parteiführung, zwischen Koalitionären und Opponenten kommen. Konnte die Arbeit der Labour-Koalitionäre vielleicht auch niemanden richtig zufriedenstellen - bei Klepsch sind sie von schier unglaublicher Mediokrität, und es waren Kleingeister mit Inferioritätskomplexen - so führte der von Klepsch beispielhaft herausgearbeitete Prozeß - und dazu gehörte eben auch Regierungsbeteiligung und zumindest vorübergehender Burgfrieden - doch zu der entscheidenden Wende in der Geschichte von British Labour, und damit auch in der britischen Geschichte: Mit Labours Aufstieg ging der unaufhaltsame Niedergang der Liberalen einher.
Ullrich Schneider
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