Im letzten Jahrzehnt ist in der Bundesrepublik das wissenschaftliche Interesse an britischer Geschichte deutlich angestiegen. Dazu haben eine Fülle materieller und immaterieller Faktoren beigetragen, wie etwa die Gründung und Tätigkeit eines Deutschen Historischen Instituts in London, die Bildung des Arbeitskeises Deutsche Englandforschung und nicht zuletzt auch das Archiv für Sozialgeschichte, das immer bemüht gewesen ist, Arbeiten vor allem zur britischen Sozialgeschichte vorzustellen. Mittlerweile sind eine ganze Reihe beachtenswerter deutscher Beiträge entstanden, die es allerdings nicht zuletzt aufgrund des Sprachproblems nicht leicht haben, von der angeIsächsischen Fachwelt zur Kenntnis genommen zu werden. Insofern tun solche Arbeiten zunächst einmal recht daran, sich darum zu bemühen, englische Geschichte dem deutschen Publikum nahezubringen. Das bedingt eine breite Rezeption des englischen Forschungsstandes. Gerade Beiträge zur britischen Arbeitergeschichte neigen nun aber 1eicht dazu, lediglich einen Ausschnitt der "labour history" zu betonen, der gewöhnlich in besonderem Maße auf zweifellos vorhandene basisdemokratische Elemente abhebt, die man in der deutschen Geschichte nicht in gleicher Weise zu entdecken meint. In einem solchen Vorgehen spiegelt sich explizit oder implizit der kritische (Seiten-) Blick auf deutsche Zustände, vor allem Kritik an sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Praxis, an der weitgehenden Verrechtlichung und Einhegung des Arbeitskonflikts, an Organisationsdisziplin. Dazu liefert dann Großbritannien das positive Gegenbild, dessen Defizite nicht immer genügend berücksichtigt werden. Ein Studium der Berichte englischer Arbeiterdelegationen von Besuchen in Deutschland könnte zweifellos helfen, die Perspektiven zurechtzurücken. So schrieb beispielsweise 1907 in der "Daily Mail" ein Birminghamer Messingarbeiter nach einem Besuch bei deutschen Kollegen: "Die deutschen Arbeiter scheinen alles zu haben, und wir können nicht begreifen, warum sie agitieren." Aus deutscher Sicht ist umgekehrt der Funktionszusammenhang des englischen Arbeiterradikalismus bisweilen schwer verständlich, entspringt er doch keineswegs ideologischem Idealismus, sondern ist in hohem Maße pragmatisch unter ganz konkreten Umständen auf die Verbesserung materieller Zustände gerichtet.
Dieser schwierigen Problematik ist sich Klepsch in seiner an der Universität Hannover entstandenen Dissertation aus dem Jahre 1981 bewusst, wenn er im ersten Kapitel den Leser in die Grundzüge der geschichtlichen Entwicklung Labours vor dem ersten Weltkrieg einführt. Dabei verfällt er punktuell (S. 27) einem whiggistischen Entwicklungsmodell, das ein Gesamtrahmen seiner Interpretation recht fremd anmutet. Anknüpfend an das gängige Verständnis der Entwicklung in Deutschland, gelingt es dem Autor, einige wichtige Struktur- und Entwicklungsmerkmale der englischen Arbeiterbewegung herauszuarbeiten und die fundamentale Schwäche der Labour Party am Vorabend des Ersten Weltkrieges einsichtig zu machen. Vor diesem Hintergrund ist es dann eigentlich weniger verwunderlich, als Klepsch annimmt, dass sich Labour der plötzlich veränderten Lage am 5. August 1914 schnell anzupassen bemüht war und bald mit dem "industrial truce" und dem "political truce" der allgemeinen Stimmungslage Rechnung trug. Der Autor selbst hebt die Kriegsbegeisterung in der Arbeiterschaft in dieser ersten Phase des Krieges hervor, deshalb ist sein Urteil von der "Selbstentwaffnung" nicht zwingend. Der glaubhaften Drohmöglichkeit eines massiven Ressourcenentzuges beraubt, musste Labour den Herrschenden als nicht sonderlich konfliktfähig erscheinen, was seinen Niederschlag auch in der "Institutionalisierung des patriotischen Einheitsgedanken" in Form des parlamentarischen Rekrutierungskomitees Labours fand. Überhaupt verlagerte sich das politische Geschehen aus der Öffentlichkeit des Parlaments hinter die verschlossenen Türen von zahllosen Ad-hoc-Ausschüssen, in denen Parlamentsabgeordnete gleichwohl neben Vertretern der gesellschaftlichen Interessengruppen mehr Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten beim Beschlussfassungsverfahren von Gesetzen und Verordnungen behielten, als dies nach Klepschs wenigen Aussagen zur Strukturveränderung des politischen Systems zu vermuten wäre.
Der Krieg zwang Labour zur Stellungnahme: Die sich dabei herausschälenden Grundpositionen charakterisiert der Autor überzeugend als 1) Jingos, 2) die Mitte, 3) die loyalen, aber kritischen Sozialisten und Gewerkschafter und 4) die extreme Linke. Zwischen den Gruppen zwei und drei waren die Übergänge oft fließend; diesen beiden Fraktionen gilt das Hauptaugenmerk der Studie von Klepsch. Allerdings - und das ist verdienstvoll - wird auch den Jingos die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet, was gerade bei vergleichbaren Beiträgen zur "Labour History" keineswegs selbstverständlich zu sein pflegt.
Im Gegensatz zur SPD hielt die Labour Party diese große innere Spannung aus und zerbrach nicht unter dem Druck der Fraktionsauseinandersetzungen. Was nach Ansicht des Autors als Schwäche Labours für die Vorkriegszeit zu gelten hat, nämlich das "eklatante Theorie- und Programmdefizit" (S. 22), erweist sich nun als Stärke und ermöglicht erst Ramsey MacDonald, seine Mittlerrolle zwischen Majorität und Minorität zu spielen.
Wenn gleich Klepsch zu recht einräumt, dass es bei Labour keine Verratskontroverse gegeben habe (S. 35), so zielt doch seine Kernthese gerade auf einen solchen Verratsvorwurf ab: Die Partei- und Gewerkschaftsführer hätten sich selbst und das politische Gewicht ihrer Bewegung ohne Not aufgegeben (S. 75). Immer wider hätten sie sich vor den Karren Lloyd Georges spannen lassen, ohne entsprechende Gegenleistungen zu fordern; ja sogar den Korruptionsvorwurf erspart ihnen der Autor nicht (S. 122). Demgegenüber gilt seine Sympathie der sog. "Rank-and-five"-Bewegung und den "shop stewards", die auf der Betriebsebene in ein von den Gewerkschaftsfunktionären und ihrem Versagen bei der Aufnahme elementarer Wünsche der Betriebsbelegschaften bewirktes Machtvakuum vorgedrungen seien. Die Gewerkschaften hätten sich immer mehr von den wirklichen Problemen und Interessen der Arbeiter entfernt (S. 87). Was Klepsch allerdings über diese betrieblichen Verhältnisse und über das Problem von "dilution" zu sagen hat, gerät ihm allzu holzschnittartig und verleitet in der Konsequenz zu falsch proportionierten Schlüssen. Hier folgt er älteren englischen Interpretationen, die mit den Namen Pribicevic und Hinton verbunden sind. Sie sind seit Ende der 1970er Jahre einem zunehmend differenzierten Bild gewichen, das nun Ian Mc Lean in sich geschlossen für die Clyde Region um Glasgow vorlegt.
Für die stinkreichen Jahre vor 1914 reduziert dieser "Red Clydeside" von einer Klassenbewegung auf den Kampf von Arbeiter-Interessengruppen um Privilegien (S. 2). Gerade der berühmte Konflikt über "dilution" sei in diesem Rahmen zu sehen. Er sei sozial und betrieblich auf eng begrenztem Raum geführt worden, nämlich in Betrieben des allgemeinen Maschinenbaus, wo militante Arbeiter als Führungspotential vorhanden gewesen seien (S. 14 f.). Für diese These findet er Bestätigung in der konkreten Streikverteilung und in dem Faktum, dass noch 1917 von 31 größeren Betrieben lediglich 14 ein "shop committee" besaßen, selbst nachdem es von der Regierung im Einvernehmen mit den Unternehmern ausdrücklich empfohlen worden war.
Der lokale Untersuchungsansatz ermöglicht es McLean, die Firmenebene mit anderen Faktoren wie ethnischer und religiöser Gruppenzugehörigkeit, Wohngegend und beruflichem Status zu korrelieren, was zur Erklärung der sehr komplizierten Konfliktfronten innerhalb einer alles andere als homogenen Arbeiterschaft überaus bedeutsam ist. So erweisen sich in der "Dilution"-Frage die "conservatives" für die Regierung als der hartnäckigere Gegner, weil sie von der Amalgamated Society of Engineers auf nationaler Ebene unterstützt wurden, während die militanten "shop stewards" und ihre Gefolgschaft in sich gespalten waren (S. 66). David Kirkwood, einem der führenden "shop stewards" der Region, kam es in diesem Zusammenhang ausschließlich darauf an, für die gelernten Arbeiter seines Betriebes die Kontrolle über die Einführung ungelernter Arbeiter und Arbeiterinnen zu sichern. Dieses Ziel erreichte er in einer separaten Betriebsvereinbarung, die beispielgebend wirkte und die grundlegende Schwäche der "shop stewards" als Bewegung verdeutlichte.
Dass die Unternehmer ebenfalls zurückhaltend bis ablehnend auf "dilution" reagierten (S. 72), ist keineswegs eine neue Erkenntnis, die gleichwohl zur Differenzierung der Gesamtsituation wesentlich ist - von Klepsch allerdings nicht gewürdigt wird. In seiner flüssig und gut lesbar geschriebenen und mit vielen aufschlussreichen Zitaten aus den Quellen versehenen Studie kann McLean die Gegensätze zwischen den protestantischen Facharbeitern aus guter Wohngegend und den Ungelernten aus überbevölkerten und heruntergekommenen Stadtvierteln - hierzu gehörte der große irische Bevölkerungsanteil - aufzeigen. Den militanten Aktivisten aus dem Mittelstand ist es allerdings selbst auf dem Höhepunkt ihres Einflusses im Dezember 1915 nicht gelungen, die Arbeiter, die im industriellen Bereich hohe Konfliktbereitschaft bewiesen, zur politischen Aktion zu bewegen. Dennoch stimmten militante Führer und Regierung sowohl 1916 als dann auch 1919 in ihrer (falschen) Lagerbeurteilung überein und sahen in den Streikbewegungen ein weit größeres Revolutionspotential, als tatsächlich vorhanden (S. 83, 85, 105, 109).
Klepsch und McLean stimmten darin überein, dass die russische Februarrevolution stimmungsmäßig eine überaus große Bedeutung habe. Während McLean jedoch zeigen kann, dass selbst im März 1917 die Arbeiter ihren Führern auf dem Weg vom industriellen zum politischen Konflikt nicht zu folgen bereit waren und selbst die Streikaktionen vom Mai 1917 über die nationalen Angelegenheiten der "dilution" von "private an commercial work" sowie von Ausnahmeregelungen vom Militärdienst keine einheitliche nationale Reaktion darstellten, habe nach Klepschs Meinung das russische Beispiel die relative Verhaltensunsicherheit beendet, und die Ursache dafür, dass sich die Streiks nicht zum Generalstreik ausgeweitet haben, sei in der agitatorischen Zurückhaltung der "shop stewards" und dem unzureichenden Informationsfluss zwischen den betrieblichen und lokalen Streikzentren untereinander zu suchen. Insgesamt aber liegt Klepschs Hauptaugenmerk nicht auf einer sozialhistorischen Analyse des "rank and file" und der "shop stewards". Im Mittelpunkt seines Erkenntnisinteresses steht vielmehr der politische Kampf zwischen Minorität und Majorität innerhalb Labours, zwischen politischem Establishment in London und dem politisch aktiven Teil der Arbeiterbevölkerung in den Provinzen, In diesem Zusammenhang wird für ihn die russische Februarrevolution ein wichtiger psychologischer Faktor mit großer Mobilisierungswirkung in der politischen Auseinandersetzung um Krieg und Frieden und die innere Ausgestaltung Großbritanniens, freilich nicht im revolutionären, sondern im reformerischen Sinne und mit Blick auf eine Restauration des status quo ante bellum. Für diesen Prozess schreibt Klepsch der Konferenz von Leeds eine Schlüsselrolle zu; auf dieser Konferenz trafen sich Sozialisten aller Schattierungen unter dem Motto "Follow Russia" am 3. Juni 1917. Sie blieb vor allem wegen ihrer Forderung nach Aufbau und Arbeiter- und Soldatenräten in -verklärender- Erinnerung. Die weitgehende Forderung nach der Diktatur des Proletariats war noch realitätsferner und erlangte keine größere historische Relevanz. Ob diese Konferenz für die Minorität einen "quantitativen Sprung" bedeutet hat, dürfte sicher umstrittener sein als die Feststellung, ihre Bedeutung liege "vor allem in ihrer direkten, oppositionelles Bewusstsein bildenden beziehungsweise schärfenden Ausstrahlungskraft" (S. 198).
In Glasgow wurde die Konferenz vom Trades Council, der kurz zuvor der Union of Democratic Control war, aufmerksam verfolgt; er ergriff bald die Initiative zur Errichtung von Arbeiter- und Soldatenräten. Nicht eine nüchterne Analyse der tatsächlichen Bedeutung, sondern Überschätzung aus Angst und aus übertriebener Zuversicht gleichermaßen prägten sowohl die Einschätzung auf Regierungsseite als auch die Erinnerung auf Seiten der Aktivisten. Dennoch, wie Kirkwood über diese kurze Euphorie bemerkt: "It died a natural death. It was chocked by its own excesses. It was more Bolshevik than the Bolsheviks. The worker laughed and went on with their jobs." (McLean, S. 94).
Im - gescheiterten - Stockholm-Konferenz-Projekt sieht Klepsch die entscheidende Brücke zur Annäherung zwischen Labour-Führung und "rank and files", zur Förderung von Labours eigenem Machtanspruch und zur zunehmenden politischen Distanzierung von der Lloyd-George-Regierung. Mit ihrem Parteiprogramm setze Labour unter Führung des aus der Regierung ausgeschiedenen Henderson den Weg zur linken Volkspartei fort, der nach Klepsch seinen Anfang beim "rank and file" genommen und von dort seine Dynamik erhalten habe. Allerdings ein Weh mit Hindernissen, denn in den Parlamentswahlen von 1918 gaben nicht einmal die Hälfte der Partei- und Gewerkschaftsmitglieder ihre Stimme der Labour Party. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund kommt Klepsch in seiner auf breiter Materialbasis kenntnisreich geschriebenen Studie zu einer insgesamt negativen Bilanz der Burgfriedenspolitik Labours im 1. Weltkrieg. Diese grundsätzliche Bewertung wird im Text immer wieder durch den bisweilen etwas zu saloppen Umgang mit abwertenden Adjektiven unterstrichen. Wie Labour die sich angeblich bietenden Chancen hätte besser nutzen können, wird hier und da angedeutet, nämlich durch eine stärkere Adaption an innen- und außenpolitischen Dispositionen der Minorität und die einzig bewegende Kraft der Basis. Dabei ist sich jedoch der Autor der sozialen, betrieblichen und geographischen Grenzen der "Rank-and-file"-Bewegung nicht immer bewusst. Das schlechte Abschneiden Labours in den Wahlen 1918 muss überdies skeptisch stimmen, denn unter den nach dem Scheitern der deutschen Frühjahrsoffensive veränderten Bedingungen verlor gerade die Friedenspolitik Labours, die auf dem Höhepunkt der Kriegsmüdigkeit 1917/Früjahr 1918 der Massenstimmung entsprochen zu haben scheint, viel von ihrer populären Attraktivität.
Dies verdeutlicht McLean für "Red Clydeside". Den Rahmen seiner Lokalstudie nutzt er überzeugend für eine Analyse der Veränderung des Wahlverhaltens der Arbeiter in Glasgow bis zum schließlichen Triumph Labours 1922. Dabei gelingt es ihm, mehrere Faktoren zu isolieren: die fundamentale Diskreditierung der offiziellen "Rank-and file"-Bewegung nach den gescheiterten Streiks um die 40-Stunden-Woche im Januar 1919; von der Regierung Lloyd George enttäuschte Erwartungen; hohe Arbeitslosigkeit und vor allem die angespannte Wohnungssituation. Entscheidend wurde für Labours Erfolg die Aufgabe der Temperenz-Agitation, die über den "pub" und den "publican" als politischen Meinungsführer den Zugang zum irisch-katholischen Wählerpotential eröffnete. Die Schulfrage sowie das Inlandproblem taten ein übriges, die Labour-Wählerschaft von den gelernten protestantischen Arbeitern in besseren Wohnvierteln auf die katholisch-irisch-ungelernten Arbeiter in den verelendeten Stadtgebieten auszudehnen und damit die Grundlage für ein bis heute in Glasgow vorherrschendes politisches Kräfteverhältnis zu legen. McLeans gerade in diesem Problembereich überzeugende Studie sollte weitere Lokal- und Regionaluntersuchungen anregen, die für diesen Zeitabschnitt die Entwicklung des kommenden Wahlverhaltens in den Vordergrund stellen sollten. Da britische Parlamentswahlen zudem in hohem Maße Persönlichkeitswahlen zu sein pflegen, liegt hier der Schlüssel zur Erklärung des Aufstiegs der Labour-Party - und, wie aktuelle Beispiele gerade zur Bedeutung des "Irish vote" zeigen, auch für ihren Abstieg und die jüngsten Erfolge der SDP.
Hans-Gerhard Husung, München
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