Friedemann Green beschreibt in seiner Dissertation
über die Entstehung und Entwicklung der Hamburger Stadtmission eine Reaktion
des Protestantismus auf die rasante Entwicklung der Industriegesellschaft
und der Großstadt in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dabei erfaßt er diese
Reaktion keineswegs nur unter ihren sozialgeschichtlichen und kirchen-praktischen
Aspekten, sondern ebenso in ihrer für die Innere Mission insgesamt grundlegenden
theologischen und ekklesiologischen Bedeutung.
Ziel J. H. Wicherns und der Inneren Mission war es, der verfaßten Kirche die
Menschen wieder zuzuführen, die durch die emanzipatorische Entwicklung der
Gesellschaft zur modernen Industriegesellschaft als Individuen nur noch wenig
Bindung an Staat und Kirche hatten und noch zum Handwerkerstand oder schon
zum Proletariat gehörten. Um dieses Ziel zu verfolgen, paßte sich Wichern
der gesellschaftlichen Entwicklung insofern an, als er ihr strukturelles Prinzip
der freien Vereinsgründung für die Bildung von der Kirche unabhängiger Vereine
übernahm. Freilich bedeutete diese Übernahme nur eine methodische Anpassung
an die moderne Gesellschaft und keine Identifizierung mit den emanzipatorischen
Inhalten der 48er Revolution. "Individualität" blieb bei der Missionsarbeit
eine Kategorie religiöser Erweckung und wurde keine religiöse Freiheit. Im
Zentrum aller missionarischen Aktivität stand der für die Kirche zu gewinnende
und dem Pfarramt zuzuführende Gläubige und nicht der zur religiösen Selbstbestimmung
befreite mündige Bürger. Von daher ist m. E. auch dem gängigen Urteil über
Wichern, er habe das "allgemeine Priestertum" reaktiviert, nur begrenzt zuzustimmen
weil ja von vornherein die "priesterliche Stellung" des Laien unterhalb des
Pfarramtes rangierte. Innere Mission sollte letztlich nur religiöse Aktivierung
innerhalb der Parochialgemeinde sein.
Die äußeren Grenzen, die Wichern der Inneren Mission und
ihrer Arbeit setzte, gingen indessen auf die Begrenztheit seines theologischen
Denkens zurück. Die sich aus den tradierten Bindungen lösende Bürgergesellschaft
versuchte er, mit einem vorrationalen Verständnis von staatlicher, gesellschaftlicher
und kirchlicher Einheit kategorial zu erfassen und von diesen Kategorien
her kritisch einzuholen. Emanzipation sah er nur als den Schritt des Menschen
weg von Gott, Staat, Familie und Kirche. Friedrich Seven
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Weil die Missionare meinten, die Menschen von diesem Weg zurückholen zu
müssen, konnten sie etwa im proletarischen Milieu der Gelegenheitsarbeiter
auch nicht die gewünschte Wirkung erzielen, sondern setzen den neuen Lebenswelten
die eigenen moralischen und religiösen Orientierungsmuster nur entgegen,
und sahen in den Formen der Selbstorganisation des Proletariats ohnehin
nur den Feind von Staat, Kirche und Gott am Werke. Viele Missionare suchten
so beständig nach verlorenen Schafen und übersahen dabei, daß sie selbst
auf verlorenem Posten standen.
Nicht zuletzt dieser mangelnde Erfolg war dann im 20. Jahrhundert mitentscheidend
dafür, daß die Hamburger Stadtmission viel von ihrer institutionellen Selbständigkeit
aufgeben mußte, um sich weitgehend unter das Dach der Landeskirche zu begeben.
Hier konnte sie wichtige Anstöße zur Öffnung der pfarramtlichen Grenzen,
für mehr Laienbeteiligung und Gemeindlichkeit geben. Dabei wurden ihre Missionshäuser
Vorbilder für den Typ des evangelischen Gemeindehauses und ihre Stadtmissionare
für den Beruf des Gemeindediakons. Die Modernisierung und Urbanisierung
wird in der Arbeit von Green als ein Prozeß gesellschaftlicher, religiöser
und kirchlicher Ausdifferenzierung ansichtig. Dieser Prozeß dauert nicht
nur bis heute an, sondern führt inzwischen auch zu der Frage, inwieweit
entwickelte Gemeindlichkeit und Kirchlichkeit noch in den Grenzen der Parochie
eine angemessene Organisationsform finden und wie die Impulse der sog. neuen
sozialen Bewegungen im und am Rande des kirchengemeindlichen Lebens institutionell
aufgenommen werden können.