Regine Kather

Hildegard von Bingen interkulturell gelesen

Interkulturelle Bibliothek, Band 106

Abstract / Rezension


In einzigartiger Weise verbindet sich in der Persönlichkeit der Hildegard von Bingen die Naturforscherin mit der Mystikerin, die Ärztin mit der Musikerin. Möglich ist dieses Zusammenspiel verschiedener Tätigkeitsbereiche vor dem Hintergrund des mittelalterlichen Weltbildes. In der Natur konnte man Gott, der den Kosmos in all seiner Schönheit geschaffen hatte, zumindest spurhaft erkennen. Die Musik sollte die im Sinnlichen verborgene geistige Ordnung darstellen und den Menschen auf sie einstimmen. Dadurch wurde er selbst zu einem bewussten Teil des Ganzen; er wurde heil. Zumindest in seltenen Augenblicken, so glaubte Hildegard wie viele andere Autoren der Antike und des Mittelalters, ist ein unmittelbares, erfahrungshaftes Erkennen Gottes, eine ‚cognitio Dei experimentalis' möglich. Der Mensch selbst galt als mikrokosmische Zusammenfassung aller Ebenen des Kosmos, der stofflichen Elemente, vegetativer, animalischer und geistiger Prozesse. Durch seinen Leib war er ein integraler Teil der Natur, durch seinen Geist partizipierte er an der göttlichen Sphäre. Tätiges und kontemplatives Leben gehörten deshalb zusammen. Lange bevor im 20. Jh. die Ordnung der Natur als Bedingung des menschlichen Lebens in den Blick getreten war und eine nationenübergreifende Umweltethik postuliert wurde, erkannte Hildegard in der Natur ein labiles Gleichgewicht, das aus dem dynamischen Zusammenspiel aller Lebewesen gebildet wird. Auch das menschliche Leben kann sich nur inmitten dieses komplexen Gefüges verwirklichen. Wird es durch menschliches Fehlverhalten, durch den Verlust des rechten Maßes gestört, dann ist auch der Mensch selbst der Leidtragende. Lesen wir Hildegards Kosmologie daher ausgehend von lebensweltlichen Erfahrungen, dann zeigen sich in vielen ihrer Gedanken Impulse zu einem neuen, modernen Verhältnis von Natur und Mensch.

Zur Autorin:
Regine Kather, geboren 1955; Studium der Philosophie, Physik und Religionswissenschaften; Promotion in Philosophie 1989; Habilitation an der Universität Freiburg 1997, seither Lehrtätigkeit an der Universität Freiburg, als Professorin seit 2004, außerdem seit 1998 Gastprofessorin an den Universitäten Bukarest und Klausenburg/ Rumänien. Forschungsschwerpunkte in philosophischer Anthropologie, Natur- und Religionsphilosophie.


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