So richtig zur Sache geht es erst nach zwei Dritteln des vorliegenden Textes. Dann wendet sich die Autorin dem Hauptthema dieses Buches zu, das in einer interkulturellen Lektüre des Konfuzius' bestehen solle; so verspricht es der Titel.
Dieses Versprechen wird anhand zweier geistesgeschichtlicher Aspekte betrachtet.
Zunächst gerät die Bewertung der chinesischen Philosophie- und Politikgeschichte während der europäischen Früh- und Spätaufklärung in den Blick. Vor allem die Identifizierung von Konfuzianismus und Herrschaftsform regt die Köpfe des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zu einer europäischen Interpretation der fernen Tradition an; und wie die Autorin überzeugend zu zeigen vermag, spiegeln sich in all diesen
Interpretationen vor allem die Diskurse der europäischen Zeit wider. Ist in der Frühaufklärung, bei Leibniz und vor allem bei Wolff, noch eine große Begeisterung für die chinesische Tradition und den dafür verantwortlich gemachten Konfuzius zu spüren, schwindet diese innerhalb des folgenden Jahrhunderts zunächst dahin, um sich dann in ihr vollkommenes Gegenteil zu verkehren - in Ablehnung und Geringschätzung. Dafür verantwortlich gemacht werden nicht neue Erkenntnisse in Bezug auf das unbekannte Reich oder ein immer profunderes Wissen bezüglich dessen Geschichte - nein, es sind vielmehr die europäischen Diskurse selbst,
die diesen Wandel einleiten. Denn während bei Wolff die Idee des aufgeklärten Herrschers und das Ziel einer politischen Stärkung des Bildungsbürgertums die grundsätzlichen Ziele des Reformeifers darstellen, sind es später die Ideen des Republikanismus und der Freiheit, die im Vordergrund der Spätaufklärung stehen - so etwa bei Kant und Hegel, aber auch bei Montesquieu. Wolff sieht von seiner Warte aus die moralischen Anforderungen, die der Konfuzianismus an einen Herrscher stellt, sowie die Etablierung des Beamtenstaates nach Abschaffung des Feudalismus als absolut vorbildlich für die europäische Entwicklung an. Seine Nachfolger jedoch verlegen sich auf das Primat der Freiheit des Einzelnen, und
entdecken im "kindlichen Geist" der Unterordnung und in der daraus folgenden
Hierarchiesierung der Gesellschaft nichts anderes als das eben erst Zurückgelassene - die bloße Despotie.
Lee zeigt in ihrer Diskussion sehr schön, wie die divergierenden politischen Ziele der
einzelnen Akteure zu divergierenden Ansichten des Konfuzianismus beitragen und
zu einer Vermischung der Diskurse führen. Diese klassische Debatte um den
Konfuzianismus scheint dabei nur Illustration der je eigenen Ansichten zu sein und eine wissenschaftliche Auseinandersetzung in weite Ferne gerückt. Ebenso verhält sich mit dem zweiten interkulturellen Aspekt, der hier beleuchtet wird, der Debatte um den "konfuzianischen Kapitalismus" die sich vorläufig in den l980ern bis 90ern abspielte. Deren Ahnherrn Max Weber wird von der Autorin eine relativ geistreiche, wenn auch mit Schwachstellen versehene Interpretation des konfuzianischen Geistes bescheinigt. Allerdings prägt er mit seiner Verschränkung von Religion, Geistesgeschichte und daraus gefolgerten Interpretationen hinsichtlich der geistigen Grundlagen für eine (fehlende) Entwicklung des Kapitalismus in Ostasien die
Diskussion, die sich zwar seiner Ansicht entgegensetzt, aber doch eben diese Parallele zwischen "Geist" oder "Kultur" und wirtschaftlicher Effizienz zu ziehen versucht. Während des Aufblühens des ostasiatischen Wirtschaftsraums in den 80erJahren hatte sich in Medien und Universitäten das Bild festgesetzt, diese enorme Wirtschaftsleistung stehe in direkter Verbindung zu den Tugenden des Fleißes und der Unterordnung, der diesen Völkern seit Jahrhunderten aufgebürdet
wurde.
Diese These anzugreifen, scheint der Vehemenz nach zu urteilen, das Hauptanliegen Lees gewesen zu sein. Im Gegensatz zur milden Kritik an den aufklärerischen Konfuziusbildern, die durch Diskursanalyse die divergierenden
Ansichten eher auflöste als widerlegte, werden diese Auffassungen eines "konfuzianischen Kapitalismus" vollends als falsche Zerrbilder einer Weltregion zurückgewiesen. Unkenntnis der politischen Lage der Arbeiter und vorschnelle Verallgemeinerungen sowie die gewünschte Rückbesinnung auf eigene arbeitsame Tugenden innerhalb des Neokonservatismus - dies seien die Gründe für eine
vollkommen ungerechtfertigte Darstellung dieses Wirtschaftswandels. Als großes
Gegenbild zur These des unterwürfigen, weil konfuzianisch erzogenen Arbeiters steht die Interpretation des Lunyu inklusive seiner geschichtlichen Voraussetzungen, welche die ersten hundert Seiten des Buches ausmachen.
Man wundert sich beim Lesen, dass diesen Grundlagen viel mehr Platz eingeräumt wird als der eigentlichen Diskussion westlicher Konfuziuslektüre. Doch gerade im letzten Teil wird deutlich, dass diese Seiten dazu genutzt wurden, ein Bild der konfuzianischen Lehre zu entwickeln, dass vor allem eines in den Vordergrund stellt: die mögliche ethische Vervollkommnung des Einzelnen. Die Grundbegriffe des Lunyu werden dahingehend sortiert, dass die gesellschaftlichen Implikationen deutlich in den Hintergrund treten - um die ethisch-menschliche Bildung des Einzelnen zu betonen und damit, ohne den Begriff wirklich in den Mittelpunkt zu stellen, ein Bild der Freiheit zu erschaffen. Denn jeder selbst, so scheint es nach dieser Lektüre
Kongzis Ansicht zu sein, hat die Möglichkeit und damit die Freiheit dazu, durch Tugend, Bildung und Sitten zu einem Edlen zu werden.
Mit dieser Interpretation folgt Lee bekannten Konzeptionen wie der von Hall und Ames oder auch der Heiner Roetz', die allesamt bestimmte humanistische und auch demokratische Elemente des Konfuzianismus hervorheben möchten. Hier stellt sich allerdings die Frage, wo denn die interkulturelle Lektüre des Konfuzius ansetzt. Erst in der Diskussion der Frühaufklärung, oder vielleicht schon in den ersten Kapiteln, die sich um eine Systematisierung bemühen, welche die Frühkonfuzianischen Texte selbst nicht leisten oder auch nicht leisten wollen? Denn diese Systematisierung scheint selbst ein westliches Anliegen zu sein, mit dem man hiesigen Denkgewohnheiten die Plausibilität chinesischen Denkens beibringen möchte.
Am Ende der Lektüre bleiben dann vielleicht ein schaler Beigeschmack und die Frage, was denn das sei, Konfuzius interkulturell zu lesen.
Christoph Schmitz
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