Michelle Becka

Interkulturalität im Denken Raúl Fornet-Betancourts

Interkulturelle Bibliothek, Band 43

Rezension


Kurz nach dem 60. Geburtstag Raúl Fornet Betancourts erschien diese Darstellung seines Denkweges, verfasst von einer jungen Theologin, deren Forschungsschwerpunkt in den Bereichen Ethik, Interkulturalität und Lateinamerika liegt (vgl. polylog Nr. 14 [2005], S. 104-107).

Verf. stellt die Entwicklung und Bedeutung dieses in Kuba geborenen Philosophen, der vielen Interessierten als Initiator der "Internationalen Kongresse für Interkulturelle Philosophie" bekannt ist, sorgfältig und gut nachvollziehbar dar. "Raúl Fornet-Betancourt verortet sich selbst in der Tradition eines kritisch-ethischen Humanismus, die, aus dem jüdisch-christlichen Denken kommend, geweitet wurde von so verschiedenen Denkern wie Herder, Marx, Sartre, Lévinas oder auch der Philosophie der Befreiung" (S. 18). Diese geistige Herkunft, die bis Mitte der 80er Jahre von einer relativ ungebrochenen Rezeption europäischer Philosophie geprägt war, erfuhr durch die Auseinandersetzung mit lateinamerikanischer Philosophie und dem Einfluss des Kubaners José Marti einen Umbruch hin zum Paradigma interkulturellen Philosophierens, das sich bei Fornet-Betancourt ab Mitte der 90er Jahre deutlich zeigt. Bei aller Wertschätzung philosophischer Vielstimmigkeit und kultureller Differenziertheit hält sich, wie Verf. zeigt, die Ablehnung eines "kontextualistischen" Verständnisses von Philosophie und Kultur durch: "Wenn Philosophie etwas genuin Menschliches ist, dann ist sie universal - universal nicht im inhaltlichen Sinn, insofern eine Philosophie an einem konkreten Ort entsteht und von dort ausgehend universalisiert wurde, sondern universal im Sinne von Denk- oder Reflexionsformen, die überall entstehen und praktiziert werden können" (S. 29).

Auch in jüngerer Zeit, in der Fornet-Betancourt den Begriff "Universalität" vorsichtiger gebraucht und ihn vor allem als "Alternative zur Globalisierung" (S. 82) versteht, behält (interkulturelle) Philosophie ihren - wenn man so sagen kann - anti-ethnozentrischen Stachel: "Interkulturalität beinhaltet ein kritisches Potential, das die verschiedenen Kontexte hinterfragt, kritisiert und gestaltet" (S. 70).

Das besondere Hervorheben der "praktisch-ethischen Wende" (S. 17), die Raúl Fornet-Betancourt "Interkulturalität" als "Solidarität" verstehen lässt (vgl. S. 110-114), und die treffenden Zitate aus der (spanischen) Primärliteratur (jeweils mit deutscher Übersetzung) machen dieses Buch nicht nur zu einer sorgfältigen Einführung in den Ansatz eines wichtigen zeitgenössischen Denkers, sondern darüber hinaus zu einer guten Anleitung, Grundfragen des interkulturellen Philosophierens wahrzunehmen und weiterzuentwickeln. -

Einziges Corrigendum, das dem Rez. aufgefallen ist: "Alternativa Bolivariana" ist vermutlich zu übersetzen mit "Bolivarische Alternative" (und nicht: "Bolivianische ": S. 114, Anm. 25).

Franz Gmainer-Pranzl


Copyright © 2007 by Verlag Traugott Bautz