Oliver Immel

Martin Heidegger interkulturell gelesen

Interkulturelle Bibliothek, Band 34

Rezension


Anzukündigen sind zwei Bücher von Philosophen, die sich mit der Frage beschäftigen, welche Bedeutung das Denken Martin Heideggers (1889-1976) für ein interkulturelles Philosophieren haben könnte. IMMEL ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Philosophischen Seminars der Universität Mainz, ROCHA de la Torre Dozent für phänomenologische Philosophie an einer Universität in Bogotá, Kolumbien. Immel stellt Heideggers Denken in seinen Grundzügen vor, indem er Sein und Zeit und zentrale Gedanken des späten Heidegger einbezieht; Rocha konzentriert sich vor allem auf die Schriften nach der so genannten Kehre (ab 1930), denn sieht man von Heideggers Hölderlin-Interpretation ab, wird für ihn erst ab 1950 die Sprache zu einem zentralen Thema.

Immel versucht die Daseinsanalyse von Sein und Zeit kulturanthropologisch fruchtbar zu machen, weil sie seiner Auffassung nach die Möglichkeit enthält, "das menschliche Sein und das unreflektierte kulturelle Denken gewissermaßen aus einem ahistorischen Blickwinkel in Augenschein zu nehmen" (S. 78); er denkt an existenziale Bestimmungen wie "Man", "Gerede" und "Tradition". Was den späten Heidegger betrifft, so bestehe sein Beitrag angesichts der weltweiten Technisierung vor allem darin, auf deren Gefahren aufmerksam zu machen. Der zweite Aspekt lässt sich von Heidegger her leicht rechtfertigen, im ersten Punkt allerdings ist es nicht ganz so offensichtlich, dass das "Ahistorische" so universal ist, wie der Autor meint.

Rocha geht ausführlich auf die verschiedenen Aspekte von Heideggers Sprachdenken ein: Nähe, Heimat, Hören, Weiterschließung - Begriffe, mit deren Hilfe er im ersten Teil die allgemeine Struktur der Sprache beschreibt, um im zweiten Teil ausgehend von der Nähe deren Bedeutung für das Gespräch zu untersuchen. Das Ergebnis wird im dritten Teil präsentiert, der die Problemkreise Welt- und Muttersprache, Heimat und kulturelle Verschiedenheit analysiert und mit einem Ausblick auf die "Möglichkeit einer Anerkennung kultureller Verschiedenheit" endet.

Fragt man, welchen Beitrag die beiden Bücher über die quantitativ längst unüberschaubar gewordene Heideggerliteratur hinaus für das Thema "Heidegger interkulturell" bringen könnten, sollte man bei Immel vor allem einige Seiten aus seinem Einleitungskapitel lesen (S. 16-20 "Vom spezifischen Charakter des Heideggerschen Denkens"): Knapp und übersichtlich referiert der Verfasser die Hindernisse, die sich einer unbefangenen Lektüre entgegenstellen könnten, wobei die hauptsächlichen Schwierigkeiten an der Terminologie liegen, damit zusammenhängend aber natürlich auch an den z. T. völlig ungewohnten Problemen, gemessen an der Tradition. Für das interkulturelle Gespräch hat Heidegger, Immels Urteil zufolge, einen "entscheidenden Schritt" getan, der aus einem Denken herausführt, das "primär nicht die Gestalt des individuellen Selbst" hat (S. 132). Das stellt vor allem den Eurozentrismus in Frage, an dem die abendländische Philosophie wesentlichen Anteil hat.

Auch Rocha denkt kritisch über die Wurzeln einer bestimmten Art des abendländischen Denkens nach und sucht mit Heidegger nach einem Weg, der aus der "Bodenlosigkeit" führt, die durch die von Europa ausgehende Technisierung der Erde geschaffen wurde. Allerdings hat Heidegger nie die Technik verurteilt, ja in ihr vielmehr jenes "Geschick" gesehen, durch welches das Sein wieder bedenkenswert werden kann - deshalb nämlich, weil die universale Technik in alle Lebensbereiche eingreift und so jenseits eines vermeintlich allmächtigen Subjekts zu einer Herausforderung wird. Das scheint mir gegenüber einer ansonsten gut fundierten Arbeit unterstrichen werden zu müssen, weil sonst der Anschein aufkommen könnte, es ginge Heidegger vor allem darum, in alte Vorstellungen von Heimat zurückzukehren (ein Vorurteil, an dem er freilich selbst nicht unschuldig war); ein besonderes Problem sehe ich dort, wo "Heimat" und "Volk" nebeneinander stehen, ohne deren Unterschieden und dem gerade bei Heidegger so belasteten Volksbegriff genauer nachzugehen. Und noch ein weitere Punkt wäre von Heidegger aus zu bedenken: das Phänomen des Religiösen. Zwar hat Heidegger selbst nach seinen frühen Vorlesungen zur Phänomenologie der Religion kaum noch diesen Namen gebraucht, doch gehört die Frage nach einer möglichen Gotteserfahrung im Zeitalter des von Nietzsche diagnostizierten Nihilismus sicherlich zu den stärksten Antrieben von Heideggers Denken. Ob dieser Weg der einzig mögliche oder vielleicht sogar ein Irrweg ist, wäre freilich zu diskutieren.

Heideggers provinzieller Habitus und vor allem seine Option für den Nationalsozialismus (beides von Immel in der Einleitung kritisch angesprochen) stellen ihn von vornherein bei zahlreichen seiner Kritiker unter Generalverdacht, zumal bei einem Thema, das von sich aus Demokratie und Urbanität verlangt. Dass dies aber vorschnell und ungerecht ist, zeigen nicht zuletzt die beiden vorliegenden Arbeiten, auch wenn deutlicher hätte werden können, wie die abendländische Philosophie an der Bedrohung der kulturellen Vielfalt der heutigen Welt wesentlichen Anteil hat: aufgrund des sie leitenden metaphysischen Seinsbegriffs (Sein als Verfügbarsein - die Grundbedeutung der aristotelischen ousia) und zugespitzt durch den in der neuzeitlichen Philosophie etablierten Vorrang der wissenschaftlichen Methode vor den Phänomen; und dass dieser Situation nicht dadurch entgangen werden kann, dass man sich aus fremden Kulturen holt, was einem selbst fehlt, sondern nur in der Aneignung der eigenen Tradition. Erst dadurch wird überhaupt erst die Möglichkeit geschaffen, das Fremde als das, was es ist, anzuerkennen. Überlegungen in dieser Hinsicht gibt es in beiden Arbeiten, sie wären allerdings, noch fruchtbarer, würden sie anhand konkreter Beispiele veranschaulicht. Zu Heideggers Dialog mit Japan gibt es ja mehrere Veröffentlichungen; Immel nimmt auf eine von ihnen einmal kurz Bezug, Rocha belässt es bei Hinweisen auf das Gespräch zwischen tomio Tezuka und Heidegger, das dieser in Unterwegs zur Sprache wiedergegeben hat. Auch wäre es von grundsätzlichem Interesse gewesen nachzuforschen, welche Barrieren zwischen Gesprächspartnern bestehen, deren Sprachen strukturell so verschieden sind wie z. B. das Japanische oder Chinesische. Im Übrigen hätte beiden Büchern ein Register gut getan, Immel außerdem ein Literaturverzeichnis.

Helmuth Vetter


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