Wenn man als Mitteleuropäer an Feiertagen bei erträglichem Wetter in mitteleuropäischen Städten spazieren geht, bewegt man sich innerhalb der Vertrautheit der eigenen Kultur. Ein Gang durch die Straßen jedoch, in denen sich ob des freien Tages ungewohnt wenige Menschen aufhalten, nur vereinzelt Autos, Straßenbahnen oder Fahrräder unterwegs sind, die ganze Szenerie einen verschlafenen oder gar ausgestorbenen Eindruck macht und vielleicht sogar eine fremdartige Stimmung entsteht, schafft einen individuell erfahrbaren Kontrast zum ansonsten hektischen und geschäftigen Alltag. Dieses umstandslos herstellbare Erlebnis ermöglicht es, einen kleinen Schritt hinter das Eigene zurückzutreten und die als wohlbekannt wahrgenommene Lebenswelt mit anderen Augen zu sehen. Zurücktreten bedeutet dabei Distanzierung - und für diese Distanzierung ist es notwendig, sich das Eigene wenigstens für einen kurzen Moment fremd werden zu lassen, um es in neuer Perspektive umfassender erkennen zu können. U.a. um diese Bewegung geht es auch in den vier Bänden von Heinz Kimmerle, in denen freilich die Distanzierung in größeren Dimensionen und mit tiefergreifenden Resultaten unternommen wird.
Seit nunmehr zwanzig Jahren beschäftigt sich Kimmerle mit afrikanischem Denken auf der Grundlage seines in Anlehnung an und Abgrenzung von europäischen Positionen entwickelten Ansatzes interkultureller Philosophie. Wie er zum Gesamtprojekt seiner Studien bemerkt, gehe es ihm bei der "Beschäftigung mit der Philosophie einer anderen Kultur [...] vor allem darum, diese Philosophie zu verstehen" (2006, 7). Angesichts der radikalen Andersartigkeit des afrikanischen Denkens begibt er sich in seinen Studien in einen interkulturellen Dialog, in dem die starren Grenzen zwischen dem Eigenen und Fremden flüssig gemacht werden sollen: Fremdes offenbart Eigenes und Eigenes lässt Fremdes entdecken. Im Prozess solcher Verstehensbemühungen stellt sich nicht nur die Frage, inwieweit afrikanisches Denken durchdrungen werden kann, sondern auch, was sich dadurch im eigenen Denken verändert hat. Hier bringt Kimmerle das einleitend benannte Moment der Distanzierung und damit verbundener sowie erweiterter Neubewertung zur Geltung. In Rückgriffen auf Sätze wie Ernst Blochs ‚Am Fuße des Leuchtturms ist kein Licht' macht er deutlich, dass gerade in der Auseinandersetzung mit dem Fremden das Eigene in einer neuen Perspektive erscheint und womöglich selbst fremd und unbekannt wird. Der erste Band zu Hegel ist thematisch und motivisch eng verknüpft mit den anderen der Trilogie Rückkehr ins Eigene. In ihr wird Hegel neben einer Reihe weiterer philosophischer Positionen verhandelt. Diese werden jedoch im Rahmen der vorliegenden, auf Hegel fokussierten Rezension vorsätzlich vernachlässigt.
Verf. begibt sich zunächst in die Negation: Hegels Bemerkungen zu außereuropäischen Kulturen seien "aus heutiger Sicht geradezu als skandalös zu betrachten", weshalb es "wenig aussichtsreich" erscheine, "Hegel interkulturell zu lesen" (2005, 9). Angesichts Kimmerles umfassender Studien, von denen die besprochenen Bände nur ein Teil sind, kann er in ihr allerdings nicht verbleiben. Es komme darauf an, den problematischen Gehalt seiner mit der Mehrheit der Zeitgenossen geteilten Auffassungen "weder herunterzuspielen noch in ihrer Härte unerklärt stehen zu lassen", sie zum einen einer dekonstruktivistischen Lektüre zu unterziehen und im Gegenzug herauszuarbeiten, dass in Hegels Frankfurter und Jenaer Zeit "andere Einschätzungen nicht-europäischer Kulturen vorkommen, die in seinem späteren Denken nicht weiter ausgearbeitet worden sind" (2005, 9 f.). In der Konfrontation mit afrikanischer Philosophie - und vor allem aus den dadurch gewonnenen Erkenntnissen - entwirft Kimmerle also zwei Formen des Umgangs mit Hegels Denken: eine kritisch-dekonstruktive sowie eine anerkennend-produktive, die beide das Resultat einer interkulturell gewonnenen Distanzierung sind.
Als grundsätzlich problematisch beurteilt Verf. Hegels Dialektik von Etwas und Anderem. Die "Rückkehr ins Eigene [könne] keine ‚Rückkehr zu sich' sein, wie sie sich im Gesamten des Hegelschen Systems der Philosophie vollzieht" (2006, 9). Wessen Ende bereits im Anfang beschlossen sei, was sich im Durchgang als Kreis von Kreisen erweise, wessen Keim das Programm seiner Entfaltung enthalte und daher prinzipiell nichts Neues erbringen könne, kenne kein Fremdes in radikalem Verständnis - und das bedeutet: Es kenne nur ein vom Etwas abhängiges Anderes, das im Kern bloß ein anderes Etwas ist. Hierbei stehen sich in Kimmerles Verständnis grundsätzlich die Verhältnisse Gegensatz und Differenz gegenüber. Im Unterschied zu den Differenzdenkern des 20. Jahrhunderts wie Levinas oder Derrida, die das Andere als radikal Anderes begreifen und somit keine Rückkehr in sich, sondern nur ein ‚Vorwärtsgehen ohne Rücksicht auf sich' kennen, sei Hegels System der konsequente Ausdruck des europäischen Identitätsdenkens, in dem das Andere im unüberwindbaren Bezug auf Etwas unterbestimmt sei. In Abgrenzung von Hegel will Verf. zwischen Eigenem und Fremdem hin- und hergehen, beim Fremden "länger, geduldiger und in wiederholten Versuchen [...] verweilen, bevor er ausdrücklich und in einem mehr prinzipiellen Sinn ins Eigene zurückkehrt" (2006, 12). Wenn er sich im Akt der Heimkunft zum vermeintlich Vertrauten dann wieder mit Hegel beschäftigt, werde ihm dieses Denken zunehmend unvertraut - Probleme werden gesehen, die vorher nicht aufschienen. Vom Standpunkt des erfahrungsreichen Rückkehrers werde das Vertraute einer Prüfung mit geänderten Vorzeichen unterzogen. Denn "ohne die Vertrautheit mit afrikanischem Denken wäre eine Untersuchung der Religion des Lebens beim Hegel der späten Frankfurter und frühen Jenaer Zeit [...] kaum möglich" (2008, 8). Diesem Unternehmen ist vor allem der erste der hier besprochenen Bände gewidmet, der für den Diskurs der Hegel-Forschung sicherlich der wichtigste ist.
Ein weiterer Aspekt der im Zeichen der interkulturellen Philosophie stehenden Kritik am Hegelschen Denken ist Kimmerle der Legitimierungsversuch eines europäischen Rechts auf Kolonisierung anderer Weltteile in der Philosophie des objektiven Geistes. Er differenziert, dass einerseits Hegels Philosophie die Philosophie der konkreten Freiheit sei, indem die politische Sphäre als verwirklichte Freiheit begriffen werde, in der sich der Einzelne als freies Individuum realisiere, andererseits aber bestimmte Menschengruppen von diesem politischen und freiheitskonstituierenden Leben ausgeschlossen seien. Wenn Hegel zum einen zur bedeutsamen Einsicht gelange, das europäische Expansionsstreben verdanke sich der inneren Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie im System der Bedürfnisse festgeschrieben ist, sei damit zum anderen verbunden, dass mit dem Offenlegen der internen Gesetzmäßigkeit der vergesellschafteten Bedürfnisbefriedigung bei Hegel auch die problematische Legitimation derselben einhergehe. Wie die Aufspaltung der bürgerlichen Gesellschaft in die Extreme Arm und Reich nicht zu versittlichen sei, führe auch die Erweiterung der Bedürfnisdialektik in neue Kontinente zu nicht auflösbaren Widersprüchen. Dass diese Entzweiung erst auf der höheren Ebene des Staates aufgehoben werde, spricht lt. Kimmerle nicht für die Konsistenz, wohl aber für den Realitätsgehalt der praktischen Philosophie Hegels. Es sollte allerdings gefragt werden, ob die in der rechtsphilosophischen Systematik ausbleibende Versöhnung des Kolonialismusproblems nicht eher als Stärke der Hegelschen Konzeption ausgelegt werden muss. - Dies behandelt Kimmerle nicht explizit. Dennoch weist er aber auf Hegels Dialektik von Herr und Knecht im Jenaer Systementwurf II und in der Phänomenologie des Geistes hin, in der er Ansätze zu einer theoretischen Durchdringung des Kolonialismusproblems ausmacht. Dass dort durchleuchtet wird, wie menschliche und gesellschaftliche Machtverhältnisse entstehen bzw. wie es zu einer Umkehrung derselben kommen kann, macht dieses Modell auch für eine Kolonialismustheorie interessant, kann mit ihm etwa das Verhältnis von kolonisiertem Volk und Kolonisatoren begriffen werden.
Weiteren Anstoß nimmt Kimmerle an der in den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte vorgetragenen These, außerhalb Europas gebe es keine wahren Religionen, Philosophien oder Staatsformen, weshalb z.B. Afrika auch kein Teil der Weltgeschichte sei. Diese schließe sich an die Kolonialismustheorie an, denn Kolonien können nach Hegel keine Geschichte haben, da sie immer nur Geschichte von Staaten sei. Hegel gehe in diesen Punkten noch weiter, wenn er "alle Weltteile außerhalb Europas zur Vorgeschichte des modernen Europa" (2005, 80) mache. Chinesische Lehren über Yin und Yang bzw. die fünf Elemente weisen für Hegel keine systematische Ordnung auf, indisches Denken bleibe ihm wesentlich im Mythischen befangen, und Afrika südlich der Sahara erwähne er überhaupt nicht. Diese argumentativen Strategien Hegels, die zu einer Verdrängung außereuropäischer Kulturen führen, fasst Kimmerle unter den Begriff des ‚Eurozentrismus' und hebt neben den bereits erwähnten historischen Passagen aus Hegels Werk ebenso logische hervor. Einerseits werde im Übergang von der Phänomenologie zur Wissenschaft der Logik die Zeit getilgt, andererseits die Logik aber in Begriffen "einer an Zeit und Raum gebundenen Sprache" (2005, 62) formuliert. Diese Sprache ist die besondere Sprache nicht nur einer besonderen Zeit, sondern auch eines besonderen Kulturkreises. Dass Hegel dennoch den Anspruch absoluter Gültigkeit erhebe, führe zur Problematik, "dass Universalität im Kontext der europäisch-westlichen Philosophie in Wahrheit häufi g die Universalisierung dieser philosophischen Tradition bedeutet" (2005, 13).
Doch Kimmerle gewinnt durch einen Perspektivwechsel noch einen anderen Blick auf die Urteile Hegels. Die Forderung nach Einbeziehung des verdrängten Geistes Afrikas richtet er weniger gegen Hegel als vielmehr gegen ein Europa mit unstillbarem kulturellen Erweiterungsdrang. Europäischer Geist breitete sich und breitet sich über die gesamte Welt aus - durch Verdrängung schwinden auch die Konzepte, sich das Andere begreifbar machen zu können. Es mag vielleicht überraschen, aber Verf. findet trotz einer Vielzahl an Kritikpunkten gegenüber Hegel einen Ansatz in seiner Philosophie zur Durchdringung des Eurozentrismus: Afrika gelte es "in seinem ‚allgemeinen Geist' zu erfassen [...], als eine Gestalt, die ‚so ganz von unserer Bildung abweicht', dass besondere Schwierigkeiten des Begreifens entstehen und besondere Vorkehrungen getroffen werden müssen, um sie in ihrem Anderssein zu verstehen" (2005, 97). Hegel gibt sich als Verstehender zu erkennen, wenn er einen gänzlich anderen, aber gleichwertigen Geist in seiner Fremdheit als Verwandtes wahrnimmt. Kimmerle urteilt Hegel also nicht vorschnell ab, sondern setzt sich kritisch abwägend mit Ansatz und Durchführung seiner Philosophie auseinander - und das erschöpft sich nicht in diesem Aspekt.
Zu den überraschend positiven Anknüpfungspunkten gelangt Kimmerle auf dem Wege der Deutung der politischen, zeit- und religionskritischen Frühschriften Hegels. Mit seinen für diese Periode zentralen Begriffen ‚Liebe' und ‚Leben' weise Hegel nämlich über den europäischen Denkhorizont hinaus und lasse seine Philosophie für andere Kulturen öffnen. Die beiden universalen Begriffe der christlichen Religion besitzen im Denken des jungen Hegel eine universale Gültigkeit über den christlichen Kulturkreis hinaus. Auch wenn Hegel selber die Begriffe nicht auf gesellschaftliche, politische oder gar zwischenstaatliche Verhältnisse anwendet, bezieht Kimmerle Hegels Modell einer Liebe, in der das Andere nicht mehr als entgegengesetzt, sondern als eins mit dem Eigenen wahrgenommen werde, bzw. ein Modell, in dem Leben als Einbeziehung des Unterschiedenen in die Selbstbeziehung und als Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung verstanden werde, auf das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen und damit verbundene Probleme und Lösungen. Das Kernmoment dieses Verhältnisses könne mit dem dialektischen Prinzip ‚Einssein im Anderssein' durchdrungen werden, in dem im Denken eine höhere Einheit der Entzweiten erfasst werde.
Die Voraussetzung einer gegenseitigen Anerkennung verschiedener Kulturen mit verschiedenen philosophischen Denkweisen liegt fürderhin in der Annahme, dass es keine teleologisch verfasste Hierarchisierung einzelner Philosophien gibt. Einen Ansatz dazu erblickt Kimmerle im - Hegels späterer Philosophie gänzlich fremden - Gedanken der Differenzschrift, das eigentlich Philosophische an der Philosophie habe keine Geschichte. Er sucht dieses Verständnis interkulturell zu übertragen, damit Philosophie 180 Literaturberichte und Kritik nicht nur historisch als zu allen Zeiten, sondern auch geographisch als an allen Orten und in allen Kulturen mit sich identisch begriffen werden kann. Indem Vernunft es in der Philosophie immer nur mit sich selbst zu tun habe und im Akt des Selbstbezugs wahre Philosophie produziere, bleiben ihre jeweiligen Gestalten zu allen Zeiten dieselben, denn "eigentümlich oder individuell besonders ist allenfalls die Form, nicht aber das Wesen der Philosophie" (2005, 28). Demgemäß lassen sich vergangene oder gegenwärtige Philosophien nicht in einem teleologischen Modell als bloße Vorübungen eines vollkommeneren Ansatzes abtun, sondern es seien jeweils von ihrer Zeit und ihren besonderen Umständen abhängige Formen der Selbsterfassung des Denkens. Unter diesen Voraussetzungen kann nach Kimmerles Auffassung auch nicht-europäische Philosophie integriert werden: Aufgrund des immer gleichen gemeinsamen Wesenskerns werden die "Philosophien verschiedener Kulturen [...] ebensosehr wie die Philosophien aus verschiedenen Perioden derselben Kultur bei allen inhaltlichen und den Stil des Philosophierens betreffenden Unterschieden dem Rang nach gleich" (2006, 35). In der Vernunft, im Denken des Denkens, einen sich in diesem Modell die Philosophien über kontinentale Kulturgrenzen hinaus.
Kimmerle befragt Hegels Philosophie allerdings nicht nur nach interkulturellen Anknüpfungspunkten die Methodik betreffend, sondern auch nach inhaltlicher Nähe zum afrikanischen Denken. Besonders in den Systementwürfen I und II finde sich ein Verständnis von Zeit, das dem afrikanischen eng verwandt sei. Hegel entwickle dort den der europäischen Tradition eher fremden Gedanken, dass Raum und Zeit zusammengehören sowie die Zeit dem Raum vorgeordnet sei. Er mache die Zeit nicht vom Raum abhängig, sondern leite beide Begriffe als Momente des Begriffs der Bewegung ab. Wenn berücksichtigt werde, daß in vielen afrikanischen Sprachen die Semantiken von Raum und Zeit ein und dasselbe Wort besitzen bzw. Zeit immer als konkret und auf ihren jeweiligen Inhalt bezogen aufgefasst werde, dann könne hierin eine Verwandtschaft mit der Auffassung des jungen Hegel gesehen werden, einen räumlich verstandenen - und damit verbunden: einen ökonomisch auf Quantität reduzierten - Zeitbegriff als verkürzt und anorganisch einzuschätzen.
Ein zusätzlicher Verwandtschaftsaspekt kann in Hinblick auf den in Afrika bis heute weit verbreiteten Animismus in den Blick genommen werden. Kimmerle setzt diese religiöse Vorstellung in ein Verhältnis zu Hegels Schriften aus den Jahren 1800 bis 1802, in denen er mit seinem Konzept der ‚Religion des Lebens' einen gegenüber der späteren Religionsphilosophie völlig anders gearteten Ansatz entwirft. Er gewinnt aus diesen Texten Hegels eine Perspektive, "um die Abwertung der animistischen Religion in der und durch die Ideologie des Kolonialismus rückgängig zu machen" (2008, 11). Anders als die an das endliche Denken gebundene Philosophie könne nach Hegels Auffassung von 1800 nur die Religion das Unendliche erfassen - und für diese seien die Begriffe ‚Natur' und ‚Leben' in grundlegender Weise bestimmend. Kimmerle argumentiert, wenn Hegel in dieser Periode davon ausgehe, alles sei lebendig, sei damit zugleich gesagt, dass alles eine Seele habe. Dieser Lebensbegriff im Sinne einer Konzeption des ‚Allebens' wird vom Verf. schließlich nicht nur als pantheistisches, sondern auch als animistisches Denken charakterisiert. Denn die Nähe der Jenaer Konzeption zu afrikanischem Denken zeige sich nicht zuletzt darin, dass in beiden Denkformen ‚Leben' der zentrale Begriff sei, dessen Kräfte dynamisch die menschliche Welt, die irdische Natur und das Universum insgesamt durchziehen und diesen Sphären untereinander Harmonie schenken.
All diese Aspekte sind nur ein Teilausschnitt aus Kimmerles umfangreichen Studien. Über sie hinaus finden sich in den vier Bänden zur interkulturellen Philosophie Auseinandersetzungen mit Hegels Demokratieverständnis, seiner Einstellung zu Kriegen, der Rolle der Religion in seinem Denken und vor allem mit weiteren Philosophen des fortgeschrittenen 19. sowie des 20. Jahrhunderts. Wie dargestellt wurde, führt Verf. zahlreiche Kritikpunkte an Hegels Philosophie ins Feld. Ob diese Kritik an allen Stellen Berechtigung findet oder ob Hegel gegen einige Einwände verteidigt werden müsste, erforderte eine eingehendere und umfangreiche Diskussion der Argumente. Indem Kimmerle jedoch beleuchtet, dass in den Gedankengebäuden Schopenhauers, Nietzsches, Batailles, Merleau-Pontys und Heideggers zwar eine allmähliche Verschiebung des Urteils über andere Kulturen stattfindet, sich aber dennoch eurozentristische, wenn nicht gar germanozentristische Grundpositionen durchsetzen, die im Verhältnis zu Hegel hinsichtlich der Ignoranz gegenüber außereuropäischem Denken vielfach sogar noch gesteigert sind, versteht er die bei Hegel herausgearbeitete Problematik als generelles Symptom europäischen Denkens der Neuzeit und Moderne. Doch Kimmerle kritisiert und dekonstruiert nicht bloß. Zum Zwecke seiner Studien beruft er sich in mehreren Anläufen produktiv auf die Philosophie des frühen Hegel. Dafür kontextualisiert er jeweils die Passagen aus Hegels Schriften, die ihm zur interkulturellen Anknüpfung dienen können - in Form von Exkursen und Einführungen. Dabei verliert er allerdings nie das übergeordnete Darstellungsziel aus den Augen.
Durch Kimmerles Konfrontation von afrikanischem und europäischem Denken entsteht ein diskursiver Raum, in dem Möglichkeiten und Grenzen der Interkulturalität ausgelotet werden. An den Positionen Hegels und anderer Philosophen ist dies aufgearbeitet worden. Im Prozess des Studierens kultureller Fremdheit kann zwar Vertrautheit hergestellt werden, der Studierende stößt dabei jedoch immer wieder auf ein radikal Anderes. Die verschiedenen Kulturen haben gewöhnlich nur ein unklares Bewusstsein davon, wie sie sich ineinander spiegeln. Durchaus getreu ist diese Spiegelung niemals. Und nur allzu selten stößt man in künstlerischen und philosophischen Bereichen auf gültige Zeugnisse dessen, was von einer fremden Kultur im Bewusstsein der eigenen lebendig ist und umgekehrt. Voltaire bringt diese Beobachtung in seinem Dictionnaire philosophique portatif anschaulich auf den Punkt: "Un Parisien est tout surpris quand on lui dit que les Hottentots font couper à leurs enfants mâles un testicule. Les Hottentots sont peut-être surpris que les Parisiens en gardent deux." Interkulturelle Philosophie kann ihren Teil dazu beitragen, die vom jeweils Anderen Überraschten in einen Dialog zu bringen.
Niklas Hebing (Bochum)
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