Heinz Kimmerle

Georg Wilhelm Friedrich Hegel
interkulturell gelesen

Interkulturelle Bibliothek, Band 54

Abstract / Rezension


Die Philosophie Hegels (1770-1831) ist häufig als Denken der konkreten Freiheit beschrieben worden. In seiner Rechtsphilosophie (1821) entwickelt er eine Auffassung vom Staat, nach der sich die Kräfte von oben (der Monarch und die Regierung) und von unten (die Volksvertretung und die öffentliche Meinung) in einem Gleichgewicht befinden. Als Staatsbürger richten sich die Menschen von sich aus auf das Allgemeine des so konzipierten Staates. Auf der Stufe der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ wird dem Besonderen Raum gegeben. Wenn jeder für sich selbst das Beste und das Meiste erstrebt, ist es (in der Gesamtsumme) auch für alle das Beste und das Meiste.

Die Dynamik der Arbeitsorganisation in der bürgerlichen Gesellschaft führt dazu, daß sie über ihre Grenzen hinaus drängt: zum Meer, wo sich durch die Seefahrt neuer Raum erschließt, und zu den nicht-europäischen Teilen der Welt, wo Kolonien gegründet werden. Diese Weltteile sind gewissermaßen ein leerer Raum - wie das Meer - und die Menschen, die dort wohnen, zählen nicht mit. Es handelt sich um Gebiete, die zur Vorgeschichte der Geschichte Europas gehören, welche allein die Weltgeschichte ausmacht, (China, Indien, der Nahe Osten und Ägypten) oder die ganz außerhalb der Weltgeschichte fallen (die beiden Amerikas, das Innere Asiens und Afrika, insbesondere das Afrika südlich der Sahara). Daß im kolonisierten Nordamerika Europa sich selbst übertreffen würde, hat er dabei klar vorausgesehen.

In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, die er in seiner Berliner Zeit (1819-1831) häufig gehalten hat, begründet Hegel, warum diese Gebiete nicht zum Schauplatz des ›Theaters der Weltgeschichte‹ werden können. Im Kern geht es darum, daß sie keine Staaten kennen (was auf erschreckender Fehlinformation Hegels beruht) und Geschichte von ihm als die Geschichte von Staaten definiert wird. Letzen Endes ist aber nicht Hegel für seine Rechtfertigung des Kolonialismus und seine Ausschließung großer Teile der Welt aus der Weltgeschichte zu tadeln, sondern Europa, da er nichts anderes tut, als sein philosophisches Programm auszuführen, ›seine Zeit‹, und das heißt hier das in seiner Zeit vorherrschende Selbstverständnis Europas, ›in Gedanken zu fassen‹.

Neben diesen äußerst kritisch zu beurteilenden Auffassungen Hegels gibt es in den 'Frühen Schriften' und in den 'Jenaer Systementwürfen' (einschließlich der 'Phänomenologie des Geistes') auch gedankliche Motive bei Hegel, die für eine interkulturell philosophische Lektüre sehr anregend und weiterführend sind. Durch den Anspruch, das 'reine Denken' in der deutschen Sprache des beginnenden 19. Jahrhunderts mit universaler Gültigkeit darstellen zu können, wird der Wendepunkt zu den Positionen bezeichnet, die aus heutiger Sicht sehr problematisch sind.

Zum Autor:
Heinz Kimmerle, geboren 1930, ist emeritierter Professor für Philosophie. Während der letzten fünf Jahre seiner Anstellung war er Inhaber eines Stiftungs-Lehrstuhls für Grundlagen der interkulturellen Philosophie an der Erasmus Universität Rotterdam. Seine Forschungsarbeit richtet sich seitdem vor allem auf die interkulturelle Philosophie mit dem Schwerpunkt afrikanische Philosophie.

Folgende Rezension erschien im ekz- Informationsdienst, ID 29/05, 015.872.2

Eine weitere Rezension erschien im Sonderabdruck aus den Stimmen der Zeit, Heft 10, Oktober 2009, Band 227, Seite 711

Eine weitere Rezension erschien in den "Hegel-Studien", Vol. 44 (2009), Seite 176-181


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