Jan D. Reinhardt

Niklas Luhmanns Systemtheorie interkulturell gelesen

Interkulturelle Bibliothek, Band 3

Rezension


"Es ist also manchmal gut, sich daran zu erinnern, dass (auch) Luhmann etwas vergessen haben könnte" (S. 67). Gemäß dieser Einsicht versucht der Soziologe Jan Reinhardt den bei Luhmann sehr unterbelichteten Begriff der Kultur klar zu fassen und als brauchbares, ja hilfreiches Konstruktionselement in das Gebäude der Systemtheorie einzufügen. Bereits daraus ergibt sich freilich, dass der Blick auf Kultur in dieser kurzen Studie ein systemtheoretischer bleibt. Daran ist nichts illegitim, der Titel des Büchleins könnte aber andere Erwartungen wecken; nämlich die, dass gleichsam eine externe Beobachtung der Universalität beanspruchenden Sozialtheorie erfolgt. Wir erfahren hier einiges darüber, wie Kultur und Interkulturalität systemtheoretisch verstanden werden könnten, aber nichts darüber, wie die Systemtheorie von einem kulturellen Standpunkt aus gesehen werden mag, der sich von dem Luhmanns und seiner Schüler unterscheidet. Mag sein, dass darin eine mitunter beklagte Schwäche der Systemtheorie zum Ausdruck kommt, die in einer Blindheit für alle soziale Realität jenseits der Industrienationen westlichen Zuschnitts besteht. Mag aber auch sein, dass die Form funktionaler Differenzierung in globalem Maßstab bereits derart dominant geworden ist, dass es tatsächlich nur noch eine Weltgesellschaft mit einer herrschenden Struktur gibt und kulturelle Pluralität wenn überhaupt nur noch innerhalb ihres Rahmens untergebracht werden kann.

Reinhardt beginnt seine Auseinandersetzung mit einer kurzen Einführung in die systemtheoretische Begrifflichkeit; danach präsentiert er Vorschläge dafür, wie der Kulturbegriff in den Theorieansatz Luhmanns eingebaut werden könnte. Dafür bieten sich zwei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten an: Kultur kann entweder eine in gesellschaftlicher Kommunikation vorkommende Perspektive auf soziale Phänomene markieren oder aber als soziologischer Grundbegriff fungieren, der davon ausgeht, dass Gesellschaft grundlegend kulturell bedingt ist. Der zweiten Möglichkeit bedient Luhmann sich nur sehr marginal und mit wenig Begeisterung, wenn er im vierten Band von "Gesellschaftsstruktur und Semantik" Kultur als "Gedächtnis sozialer Systeme" bezeichnet. Ein solcher Kulturbegriff erscheint R. allerdings zu eng, da er nur soziale Kommunikationssysteme, nicht aber das Bewusstsein und die leibliche Existenz der Individuen erfasst. Er greift daher auf den Vorschlag des Trierer Soziologen Alois Hahn zurück, der Kultur als Medium der Kommunikation interpretiert, gleichsam als Selektionsmechanismus und Einschränkungsinstrument von Formbildungspotenzialen. So verstanden schweißt Kultur "Sinn" zu Bedeutungskomplexen zusammen (vgl. S. 79). So könnte die Lücke zwischen einem allzu unbestimmten Medium wie "Sinn" und konkreten Medien wie Sprache, Wahrheit oder Geld geschlossen werden. Gleichsam quer zur Logik der funktionalen Differenzierung liegend könnte es dann auch Kultur sein, die unterschiedliche Funktionssysteme über Interpenetration zu koppeln vermag.

Als konkreten Anwendungsfall der Reflexionen über Kultur behandelt R. das Thema religiöser (In-)Toleranz. Der Autor verweist darauf, dass eine gewisse Form gewaltbereiter Märtyrerlogik als spezifisch modernes Phänomen zu betrachten sei, weil darin religiöse Kommunikation mit radikaler Individualisierung kombiniert wird. Weniger überzeugend gelingt freilich die Darstellung von "Toleranz" als notwendige Anpassung religiöser Weltdeutung an die zunehmende funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften. Der Mehrwert der im ersten Teil vorgelegten Kulturreflexion für das Schlusskapitel ist nicht erkennbar, so dass das - durchaus lesenswerte - Buch letztlich aus zwei kaum ineinander verzahnten Teilen besteht.

Wilhelm Guggenberger


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