Heinz Kimmerle

Rückkehr ins Eigene.

Die Dimension des Interkulturellen in der Philosophie

Interkulturelle Bibliothek, Band 6

Rezension


Philosophie für andere Kulturen öffnen. Die beiden universalen Begriffe der christlichen Religion besitzen im Denken des jungen Hegel eine universale Gültigkeit über den christlichen Kulturkreis hinaus. Auch wenn Hegel selber die Begriffe nicht auf gesellschaftliche, politische oder gar zwischenstaatliche Verhältnisse anwendet, bezieht Kimmerle Hegels Modell einer Liebe, in der das Andere nicht mehr als entgegengesetzt, sondern als eins mit dem Eigenen wahrgenommen werde, bzw. ein Modell, in dem Leben als Einbeziehung des Unterschiedenen in die Selbstbeziehung und als Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung verstanden werde, auf das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen und damit verbundene Probleme und Lösungen. Das Kernmoment dieses Verhältnisses könne mit dem dialektischen Prinzip ‚Einssein im Anderssein' durchdrungen werden, in dem im Denken eine höhere Einheit der Entzweiten erfasst werde.

Die Voraussetzung einer gegenseitigen Anerkennung verschiedener Kulturen mit verschiedenen philosophischen Denkweisen liegt fürderhin in der Annahme, dass es keine teleologisch verfasste Hierarchisierung einzelner Philosophien gibt. Einen Ansatz dazu erblickt Kimmerle im - Hegels späterer Philosophie gänzlich fremden - Gedanken der Differenzschrift, das eigentlich Philosophische an der Philosophie habe keine Geschichte. Er sucht dieses Verständnis interkulturell zu übertragen, damit Philosophie 180 Literaturberichte und Kritik nicht nur historisch als zu allen Zeiten, sondern auch geographisch als an allen Orten und in allen Kulturen mit sich identisch begriffen werden kann. Indem Vernunft es in der Philosophie immer nur mit sich selbst zu tun habe und im Akt des Selbstbezugs wahre Philosophie produziere, bleiben ihre jeweiligen Gestalten zu allen Zeiten dieselben, denn "eigentümlich oder individuell besonders ist allenfalls die Form, nicht aber das Wesen der Philosophie" (2005, 28). Demgemäß lassen sich vergangene oder gegenwärtige Philosophien nicht in einem teleologischen Modell als bloße Vorübungen eines vollkommeneren Ansatzes abtun, sondern es seien jeweils von ihrer Zeit und ihren besonderen Umständen abhängige Formen der Selbsterfassung des Denkens. Unter diesen Voraussetzungen kann nach Kimmerles Auffassung auch nicht-europäische Philosophie integriert werden: Aufgrund des immer gleichen gemeinsamen Wesenskerns werden die "Philosophien verschiedener Kulturen [...] ebensosehr wie die Philosophien aus verschiedenen Perioden derselben Kultur bei allen inhaltlichen und den Stil des Philosophierens betreffenden Unterschieden dem Rang nach gleich" (2006, 35). In der Vernunft, im Denken des Denkens, einen sich in diesem Modell die Philosophien über kontinentale Kulturgrenzen hinaus.

Kimmerle befragt Hegels Philosophie allerdings nicht nur nach interkulturellen Anknüpfungspunkten die Methodik betreffend, sondern auch nach inhaltlicher Nähe zum afrikanischen Denken. Besonders in den Systementwürfen I und II finde sich ein Verständnis von Zeit, das dem afrikanischen eng verwandt sei. Hegel entwickle dort den der europäischen Tradition eher fremden Gedanken, dass Raum und Zeit zusammengehören sowie die Zeit dem Raum vorgeordnet sei. Er mache die Zeit nicht vom Raum abhängig, sondern leite beide Begriffe als Momente des Begriffs der Bewegung ab. Wenn berücksichtigt werde, daß in vielen afrikanischen Sprachen die Semantiken von Raum und Zeit ein und dasselbe Wort besitzen bzw. Zeit immer als konkret und auf ihren jeweiligen Inhalt bezogen aufgefasst werde, dann könne hierin eine Verwandtschaft mit der Auffassung des jungen Hegel gesehen werden, einen räumlich verstandenen - und damit verbunden: einen ökonomisch auf Quantität reduzierten - Zeitbegriff als verkürzt und anorganisch einzuschätzen.

Ein zusätzlicher Verwandtschaftsaspekt kann in Hinblick auf den in Afrika bis heute weit verbreiteten Animismus in den Blick genommen werden. Kimmerle setzt diese religiöse Vorstellung in ein Verhältnis zu Hegels Schriften aus den Jahren 1800 bis 1802, in denen er mit seinem Konzept der ‚Religion des Lebens' einen gegenüber der späteren Religionsphilosophie völlig anders gearteten Ansatz entwirft. Er gewinnt aus diesen Texten Hegels eine Perspektive, "um die Abwertung der animistischen Religion in der und durch die Ideologie des Kolonialismus rückgängig zu machen" (2008, 11). Anders als die an das endliche Denken gebundene Philosophie könne nach Hegels Auffassung von 1800 nur die Religion das Unendliche erfassen - und für diese seien die Begriffe ‚Natur' und ‚Leben' in grundlegender Weise bestimmend. Kimmerle argumentiert, wenn Hegel in dieser Periode davon ausgehe, alles sei lebendig, sei damit zugleich gesagt, dass alles eine Seele habe. Dieser Lebensbegriff im Sinne einer Konzeption des ‚Allebens' wird vom Verf. schließlich nicht nur als pantheistisches, sondern auch als animistisches Denken charakterisiert. Denn die Nähe der Jenaer Konzeption zu afrikanischem Denken zeige sich nicht zuletzt darin, dass in beiden Denkformen ‚Leben' der zentrale Begriff sei, dessen Kräfte dynamisch die menschliche Welt, die irdische Natur und das Universum insgesamt durchziehen und diesen Sphären untereinander Harmonie schenken.

All diese Aspekte sind nur ein Teilausschnitt aus Kimmerles umfangreichen Studien. Über sie hinaus finden sich in den vier Bänden zur interkulturellen Philosophie Auseinandersetzungen mit Hegels Demokratieverständnis, seiner Einstellung zu Kriegen, der Rolle der Religion in seinem Denken und vor allem mit weiteren Philosophen des fortgeschrittenen 19. sowie des 20. Jahrhunderts. Wie dargestellt wurde, führt Verf. zahlreiche Kritikpunkte an Hegels Philosophie ins Feld. Ob diese Kritik an allen Stellen Berechtigung findet oder ob Hegel gegen einige Einwände verteidigt werden müsste, erforderte eine eingehendere und umfangreiche Diskussion der Argumente. Indem Kimmerle jedoch beleuchtet, dass in den Gedankengebäuden Schopenhauers, Nietzsches, Batailles, Merleau-Pontys und Heideggers zwar eine allmähliche Verschiebung des Urteils über andere Kulturen stattfindet, sich aber dennoch eurozentristische, wenn nicht gar germanozentristische Grundpositionen durchsetzen, die im Verhältnis zu Hegel hinsichtlich der Ignoranz gegenüber außereuropäischem Denken vielfach sogar noch gesteigert sind, versteht er die bei Hegel herausgearbeitete Problematik als generelles Symptom europäischen Denkens der Neuzeit und Moderne. Doch Kimmerle kritisiert und dekonstruiert nicht bloß. Zum Zwecke seiner Studien beruft er sich in mehreren Anläufen produktiv auf die Philosophie des frühen Hegel. Dafür kontextualisiert er jeweils die Passagen aus Hegels Schriften, die ihm zur interkulturellen Anknüpfung dienen können - in Form von Exkursen und Einführungen. Dabei verliert er allerdings nie das übergeordnete Darstellungsziel aus den Augen.

Durch Kimmerles Konfrontation von afrikanischem und europäischem Denken entsteht ein diskursiver Raum, in dem Möglichkeiten und Grenzen der Interkulturalität ausgelotet werden. An den Positionen Hegels und anderer Philosophen ist dies aufgearbeitet worden. Im Prozess des Studierens kultureller Fremdheit kann zwar Vertrautheit hergestellt werden, der Studierende stößt dabei jedoch immer wieder auf ein radikal Anderes. Die verschiedenen Kulturen haben gewöhnlich nur ein unklares Bewusstsein davon, wie sie sich ineinander spiegeln. Durchaus getreu ist diese Spiegelung niemals. Und nur allzu selten stößt man in künstlerischen und philosophischen Bereichen auf gültige Zeugnisse dessen, was von einer fremden Kultur im Bewusstsein der eigenen lebendig ist und umgekehrt. Voltaire bringt diese Beobachtung in seinem Dictionnaire philosophique portatif anschaulich auf den Punkt: "Un Parisien est tout surpris quand on lui dit que les Hottentots font couper à leurs enfants mâles un testicule. Les Hottentots sont peut-être surpris que les Parisiens en gardent deux." Interkulturelle Philosophie kann ihren Teil dazu beitragen, die vom jeweils Anderen Überraschten in einen Dialog zu bringen.

Niklas Hebing (Bochum)


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