Kulturabteilung der Botschaft der Islamischen Republik Iran in Berlin (Hrsg.)

Was ist Tradition?

SPEKTRUM IRAN, Heft 4/2014

Abstract / Rezension


Tradition ist konservierte Denkleistung. Sie ist einer kulturellen Schatztruhe vergleichbar, in der überliefertes Wissen aus Jahrtausenden aufbewahrt ist. Tradition verleiht kollektive Identität, schenkt Geborgenheit, Halt und Orientierung. Tradition ist jedoch kein in Stein gemeißeltes Gesetz. Tradition ist in sich plural. Sie lässt sich mit einer Pralinenschachtel vergleichen. Während manches Konfekt bitter schmeckt, ist anderes zartbitter oder süß, mit Nüssen oder Trüffeln angereichert. Es liegt in der Natur der Sache, dass nicht jeder alle Varianten gleichermaßen für einen Gaumenschmaus hält. Analoges gilt auch für die Tradition.

Bei aller Unterschiedlichkeit lebt in der Tradition ein Geist, der verbindet und zugleich herausfordernd erneuert. Diese Lesart von Tradition ist Bestandteil verschiedener iranischer Diskurse. Allein die Geschichte der Koranhermeneutik in der islamisch-iranischen Tradition ist hierfür Beleg. Tradition beschränkt sich nicht nur auf Heilige Schriften. Sie kann vieles sein, vom Lehrer-Schüler-Verhältnis bis zur Herausbildung von Denkschulen, denen unterschiedliche Stile und Arbeitsmethoden zugrunde liegen. Deshalb gibt es eine ›reine‹ eigene Tradition ebensowenig wie es eine ›reine‹ andere Tradition gibt. Dabei ist zu beachten, dass Lob und Kritik des Vergangenen oder Gegenwärtigen in der Regel wiederum durch eine bestimmte traditionelle Brille geschieht. Tradition kann tatsächlich Erstarrung erzeugen, Dogmatismus hervorbringen und eigenwillige Gehäuseformen bilden. Kein Ansatz kann sich von solchen Gefahren freisprechen.


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