Betrachten wir die Geschichte der Religionen, so stellen wir fest, dass Mystik diejenige Lehre ist, die in allen Religionen in unterschiedlichen Formen verankert ist. Diese Lehre ist weder eine Alternative zur Religion noch ein Pendant, auch wenn es Versuche gibt, sie als solche zu charakterisieren.
Djalal ad-Din Mohammad Rumi, Farideddin Attar, Hossein Ibn Mansour Halladj sowie Sebastian Franck, Jacob Böhme, Hildegard von Bingen und Meister Eckhart sind einige Hauptfiguren, die im christlich-islamischen Kontext der Mystik zuzurechnen sind. In ihren Lehren geht es um unsichtbare, aber wirksame Kräfte, die sich in den Heiligen Schriften ihrer Religionen manifestieren. Ihr Ziel ist Läuterung des Inneren, Erleuchtung durch Kontakt mit transzendenten Ebenen bis hin zu jener ›unio mystica‹, dem Einswerden mit Gott.
Mystik betrifft das Verborgene, thematisiert individuelle Gotteserfahrungen und zeigt Wege zur eigenen Veredelung. Ihre ureigene Aufgabe besteht darin, mittels Disziplin und praktischen Übungen eine Harmonie zwischen Innen- und Außenwelt sowie Theorie und Praxis im Leben herzustellen. Gerade dieses praktische Ausleben ist der ursprüngliche Sinngehalt von ›Scharia‹. Ziel ist es, die Grenzen zwischen sich und Gott zu überwinden und im Alltag des Lebens das Göttliche zu verwirklichen. Versenkung, Askese, Regeln und disziplinierte Lebensführung gehören zu einem mystischen Dasein, auch wenn dieses in unterschiedlichen Gemeinschaften und Orden verschieden praktiziert wird.
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