Band 3
Religion nach Kant
Ausgewählte Texte aus dem Werk Johann Heinrich Tieftrunks (1759-1837)

Rezension

 
"Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung Setzt! Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tun!"


Das Epigramm Schillers über 'Kant und seine Ausleger' betrifft auch Johann Heinrich Tieftrunk (geb. Stove bei Rostock 1759, gest. Halle /Saale 1834). Von ihm, einem "der bedeutendsten und scharfsinnigsten Kantschüler" (Emanuel Hirsch) ist allerdings zu sagen, dass er bereits Konsequenzen aus der Lehre seines Meisters für die Auffassung der christlichen Religion gezogen hat, als dieser seine Hauptschrift zu diesem Thema, die 'Religion in der Grenzen der reinen Vernunft' (1793) noch gar nicht vorgelegt hatte. 1789 erschien Tieftrunks 'Der Einzigmögliche Zweck Jesu, aus dem Grundgesetz der Religion entwickelt', 1790 der 'Versuch einer Kritik der Religion und aller religiösen Dogmatik mit besonderer Rücksicht auf das Christenthum', die mit dem 'Versuch einer Kritik aller Offenbarung' des um drei Jahre jüngeren Fichte von 1792 zu vergleichen ist; 1791 begann Tieftrunk sein religionsphilosophisches Hauptwerk, die ‚Censur des christlichprotestantischen Lehrbegriffs nach den Prinzipien der Religionskritik' (3 Bde. bis 1795) zu veröffentlichen. Mit Kant verband Tieftrunk eine enge wissenschaftliche Freundschaft; Kant vertraute ihm die Publikation einiger seiner kleineren Schriften an; 1798 bekannte Kant in einem Brief an ihn, dass ihm Johann Gottlieb Fichtes Kontruktion der Erkenntnis aus dem bloßen Selbstbewusstsein ohne gegebenen Stoff gespenstisch sei. Damit zeichnete sich die Differenz zwischen dem anhebenden Deutschen Idealismus und der kantischen Philosophie ab. Tieftrunk ist dieser bis zu seinem Lebensende treu geblieben.


Ulrich Lehner, Assistant Professor für Kirchen- und Theologiegeschichte der Neuzeit an der Marquette University, Milwaukee, USA, hat Auszüge aus einigen z. T. schwer zugänglichen Werken Tieftrunks zur Religionsphilosophie in dem hier vorzustellenden Band zusammengestellt und in einer ausführlichen Einleitung kommentiert. Text 1 ist ein Auszug aus 'Der Einzigmögliche Zweck Jesu'. Tieftrunk geht hier aus von dem Grundsatz: "Die Religion kann subjektiv und objektiv erwogen werden. Objektiv ist sie die Erkenntniß unsrer Pflichten als göttlicher Gebote und subjektiv ist sie Gesinnung und Stimmung des Gemüths, den sittlichen Gesetzen zu gehorchen, weil sie Gebote des höchsten moralischen Gesetzgebers und Bestimmers der Natur sind." (zit. Einleitung, XII). Somit kann der "einzige Zweck" Jesu, das Prinzip seiner Religionsbegründung nur das Sittengesetz sein. Tieftrunk meint damit, die Lehre Jesu, aber auch den Kern des Christentums wiedergegeben zu haben (XVf). Seine Motivation ist dabei, sowohl dem Konfessionalismus und der interreligiösen Polemik ein Ende zu bereiten, als auch gegen den Atheismus einen stabilen Damm zu errichten (XIV). In dem 'Versuch einer Kritik der Religion' - ein Auszug aus dieser Schrift als Text 2 - fährt Tieftrunk auf dem eingeschlagenen Wege fort: die wahre Religion muss auf dem Grundprinzip ruhen: "Handle nach dem Gesetz Deines unbedingten Daseins und erkenne in diesem den Willen Gottes" (zit. XVIII). Inder 'Censur' (Auszug in Text 3) folgt daraus konsequent die Interpretation der biblisch bezeugten Offenbarung Gottes in der Geschichte als Symbol moralischer Wahrheiten. Wunder werden als möglich betrachtet, dürfen aber weder den theoretischen Verstand daran hindern, nach einer Erklärung aus der Natur zu suchen, noch den praktischen, auch ohne auf ein Wunder sich zu stützen, das Sittengesetz erfüllen zu wollen. Das Ergebnis ist somit eine "Enthistorisierung der Evangeliumsbotschaft zugunsten ihre moralischen Kerns" (XXXIVf). Dies wird in der 'Religion der Mündigen' von 1800 noch vertieft.


Letztlich ist Tieftrunks Voraussetzung die Sicherheit, mit welcher wie bei Kant die Vernunft den Standpunkt der Kritik meinte einnehmen zu können. Dies führt zu der Einschränkung aller spekulativen Erkenntnis und setzt zugleich den Punkt, auf den alles bezogen werden muss, nämlich die Selbstbestimmung des Menschen. Diese ist eben damit das Maß, nach dem auch die Offenbarung gemessen werden soll.


Ein Beispiel für die kritische Rezeption Kants und Tieftrunks bietet Karl Friedrich Stäudlins 'Idee zur Kritik des Systems der christlichen Religion' von 1791 - ein Auszug daraus als Text 5.


Aus dem Geiste Tieftrunks hingegen ist die anonyme, vollständig als Text 6 wiedergegebene Schrift "Ueberzeugender Beweis, daß die Kantische Philosophie der Orthodoxie nicht nachtheilig, sondern ihr vielmehr nützlich sei" (1788).


Über die Reprint-Ausgaben der Reihe 'Aetas Kantiana' hinaus macht Ulrich Lehners Text-Auswahl einige für die Kenntnis dieses Abschnitts der Aufklärung wichtige Quellentexte greifbar. Wünschenswert wäre dann noch eine Bibliographie dieser Texte gewesen, auch eine zusammenfassende Angabe mit Seitenangaben, welche Teile der Tieftrunkschen Werke hier wiedergegeben werden. Das besondere Verdienst dieses Bandes liegt aber vor allem darin, dass hier anhand von Schriften, die Kants eigene Folgerungen für die Religionsphilosophie vorwegzunehmen suchten, Stoff gegeben wird zum Bedenken der kritischen Frage, ob sich christliche Religion "nach Kant", d. h. unter Akzeptierung seiner erkenntnistheoretischen Wendung, tatsächlich angemessen denken lässt.


Sven Grosse, Basel

   
   
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