Peter Heinrich

Mensch und freier Wille

bei Luther und Erasmus

Ein Brennpunkt reformatorischer Auseinandersetzung -
Unter besonderer Berücksichtigung der Anthropologie

Rezension


Wem verdankt ein Christ sein Heil?

Das ist der strittige Punkt in der Frage nach der menschlichen Willensfreiheit. Kann sich der Mensch aus eigener Vernunft und Kraft für ein Leben mit Gott entscheiden? Wer bewirkt, daß ein Mensch zum Glauben an Jesus Christus findet? Wie heißt der Autor in einer Bekehrungsgeschichte?

Handelt es sich bei solchen Fragen um eines der typisch akademischen Schreibtischprobleme zwischen Fachgelehrten aus einer längst vergangenen Epoche, über das die Geschichte nicht erst im 20. Jahrhundert längst hinweggegangen ist? Die Rezeption der Lehre vom "unfreien Willen" nach Martin Luthers bedeutender Schrift "De servo arbitrio" scheint dies in weiten Teilen der nachreformatorischen Tradition nahezulegen.

Für Martin Luther selbst und eine namhafte theologische Minderheit, zu der sich Peter Heinrich vom ersten Satz seines Vorwortes an bekennt, steht mehr, um nicht zu sagen alles auf dem Spiel, was einen Christen kennzeichnet und näherhin zum Proprium evangelischer Theologie geworden ist.

Wo findet ein Christ den alleinigen Grund für die Gewißheit seines Heils?

P. Heinrich hat die Auseinandersetzung, wie sie zwischen Erasmus von Rotterdam und Martin Luther in der Frage nach der Willensfreiheit exemplarisch geführt wurde, nicht nur wissenschaftlich recherchiert, sondern auf seine Weise durchlitten. Zur prägenden Erfahrung seines langjährigen Ausbildungsganges, der ihn vom Geistlichen Rüstzentrum in Krelingen über die Kirchliche Hochschule Bethel, die Bibelschule Beatenberg und die Freie Theologische Akademie in Gießen an die Universitäten Tübingen und Hamburg führte, gehört die Begegnung mit Luthers Schrift "De servo arbitrio" und einer damit verbundenen Wende vom überzeugten Anhänger der Lehre vom freien Willen zum Schüler Luthers und der reformatorischen Schriftauslegung.

Für Luther gründet sich der Glaube nicht auf menschliche Werke, Verdienste oder Willensentschlüsse sondern allein auf Gottes Gnade, wie sie in Jesus Christus erschienen ist und uns im Evangelium und in den Sakramenten der Kirche geschenkt wird. Nicht der Mensch macht sich gerecht vor Gott, sondern Gott rechtfertigt den Menschen "allein durch sein herablassendes Erbarmen," wie es die Schriften alten und neuen Testaments bezeugen.

Die Frage nach der menschlichen Willensfreiheit ist also kein ausschließlich anthropologisches Spezifikum, sondern von eminent soteriologischer Bedeutung. Diese theologische Grundeinsicht zeichnet P. Heinrich in seiner zweibändigen Studie nach.

Von allen seinen Schriften schätzte Martin Luther seine Abhandlung über den unfreien Willen neben dem Katechismus am meisten. P. Heinrich teilt diese Ansicht.

Der Autor begründet dies, indem er zunächst sorgfältig die Anthropologie des Erasmus analysiert und anschließend mit Luthers Anthropologie vergleicht. Hier wären zusätzliche kirchen-geschichtliche Hinweise zum historischen Umfeld der beiden Kontrahenten für das Verständnis der Problematik dem interessierten Laien sicherlich hilfreich gewesen.

Um so deutlicher dagegen arbeitet Peter Heinrich die ihre historische Bedingtheit übergreifende Bedeutung von Luthers "De servo arbitrio" heraus: Es geht ihm "um die Glaubensgerechtigkeit", wie der Titel eines Aufsatzbandes von H. J. Iwand lautet, auf den sich P. Heinrich beruft. In dieser Gerechtigkeit, die aus dem Glauben allein kommt, fand Luther das Evangelium: Das Heil wird gesetzt, nicht erlangt: Gott macht uns gerecht aus dem durch den Heiligen Geist allein gewirkten Glauben. Gott kommt uns mit seiner Gerechtigkeit zuvor. "Gott erweist seine Liebe zu uns darin, daß Christus ist für uns gestorben, als wir noch Sünder waren" (Röm5,8). Wo der Mensch Gott nicht anders als in Christus fassen kann, findet er gerade darin den tiefsten Grund des Glaubens, daß dieser Gott sein Heil gewirkt hat.

P. Heinrich zeigt, wie Luther jede auch noch so geringe Mitwirkung des Menschen zum Heil um des Evangeliums willen vehement ablehnt und gerade darin den Menschen als eminent trostbedürftiges Wesen zu verstehen lehrt, dessen charakteristisches Merkmal in der Verkennung dieser Bedürftigkeit besteht.

Diese Verkennung manifestiert sich besonders deutlich in der Lehre vom freien Willen, wie sie von der humanistischen Tradition vertreten wird, in der Erasmus steht und von der auch P. Heinrich zumindest die Spätauflagen von Melanchthons "Loci communes" wieder beeinflußt sieht.

Dieser Infizierung evangelischer Theologie mit einem reformatorischer Erkenntnis zuwiderlaufenden Gedankengut in der zeitgenössischen Verkündigungspraxis spürt der zweite Teil des Doppelbandes nach.

Interessant wäre darüber hinaus gewesen, die Konsequenzen aus Luthers Lehre vom unfreien Willen auch für die Tauflehre zu bedenken und im Hinblick auf aktuelle Fragen der Taufpraxis zu konkretisieren. Die Grundlagen dafür hat die Reformation wieder entdeckt. P. Heinrich hat daran erinnert.

In einer Zeit der Krise - nicht nur der Theologie, sondern auch der Kirche -bringt P. Heinrichs Arbeit die unaufgebbare Grundlage christlichen Glaubens, Lehrens und Lebens zur Geltung. Besonders wertvoll war für mich die Reflexion kirchlicher und insbesondere evangelistischer Verkündigungspraxis auf dem Hintergrund der Frage nach der menschlichen Willensfreiheit. Hier kann der Prediger an sich selbst den Trost des Evangeliums erfahren, wenn er bereit ist, Luthers exegetische Erkenntnisse für sich fruchtbar werden zu lassen.

Dem Verlag Traugott Bautz ist zu danken, daß er in einer theologieverdrossenen Zeit gewagt hat, diesen kostbaren und ansprechend gestalteten Doppelband aufzulegen. Wer eine sachkundig auf eine zentrale Thematik eingegrenzte Studie zur Vertiefung reformatorischer Theologie sucht, wird P. Heinrichs Bücher mit Gewinn und Freude lesen. Ein forschungsgeschichtlich außerordentlich interessantes Literaturverzeichnis sowie ein umfangreiches Register erleichtert in beiden Bänden gesondert den Zugang.

Pfarrer Ernst Nestele, 72474 Winterlingen, Kirchstraße 23


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