Ina Braun-Yousefi

Clara Viebig

Ansichten- Einsichten - Aussichten

Schriften zur Clara-Viebig-Forschung Band I

Rezension


Nun hat es sich zwar schon seit längerer Zeit herumgesprochen, dass Clara Viebig weit mehr war als nur die Heimatdichterin, für die sie über Jahrzehnte hinweg angesehen wurde. Dennoch überrascht es, wie vielfältig das schriftstellerische Schaffen Viebigs tatsächlich war. Und zwar nicht nur, was die Genres ihrer Romane und Erzählungen betrifft, zu denen Großstadtromane ebenso zählen wie historische und Antikriegsromane, sondern auch hinsichtlich der Textsorten, in denen sie sich bewegte. Neben den bekannten Gattungen der Romane und Novellen zählen etwa Novelletten, Humoresken, Märchen, Aphorismen, Schauspiele, Reise- und Landschaftsbeschreibungen, feuilletonistische Essays sowie Rezensionen dazu.

Detaillierte Auskunft über ihr vielfältiges ((Euvre bietet Ina Braun-Yousefis 2019 erschienene Monographie Clara Viebig. Ansichten - Einsichten - Aussichten. Der Untertitel bezeichnet zugleich die drei Hauptabschnitte des Bandes, deren erster einen kurzen biographischen Abriss und eine Sammlung von frühen "Pressestimmen" (S. 11) zur Person Viebigs bietet. Der zweite gibt Einblicke in die weniger bekannten Genres und Textsorten Viebigs wie etwa ihre Feuilletons, ihre Märchen und ihr "Filmschaffen" (ebd.). Der dritte Hauptteil präsentiert die bisherigen, allesamt lückenhaften Bibliographien zu Viebigs (Euvre, eine "Zusammenstellung neuerer Funde zu Übersetzungen ihres Werks" (S. 12) sowie einige "Vorschläge zur Erforschung von Leben, Werk, Wirken und Methode Clara Viebigs" (ebd.).

Absicht der Studie ist es nicht nur, die Forschung zu Viebig und ihrem Werk voranzubringen und deren Feld "zu erweitern", sondern auch weitere Publikationen und somit den "Beginn einer systemisch-systematischen Basisforschung" in Gang zu setzen (S. 11). Hierzu bietet sich die neue Reihe Schriften zur Clara-Viebig-Forschung an, als deren erster Band die vorliegende Studie erschienen ist. Ihre Autorin fungiert zugleich als Herausgeberin der gesamten Reihe.

Den drei Hauptabschnitten des Buches ist ein Vorwort vorangestellt, in dem Braun-Yousefi darauf hinweist, dass "einige Passagen" ihrer Arbeit "an die Artikel zu einzelnen Viebig-Romanen in der Internet-Enzyklopädie Wikipedia erinnern" könnten (S. 14). Dies rühre daher, dass sie diese Einträge selbst verfasst habe (vgl. ebd.).

Der erste Abschnitt des vorliegenden Bandes setzt mit einem recht knapp gehaltenen "biographischen Abriss" ein (S. 19). Ihm folgen einige von Braun-Yousefi zusammengetragene "Stimmen zur jungen Clara Viebig" (S. 27), die weitgehend kommentarlos aneinandergereiht werden und ausnahmslos positiv sind, so dass sich die Frage stellt, ob es tatsächlich keine kritischen gegeben haben sollte. Beschlossen wird der erste Teil mit einem Kapitel über die beeindruckende "Vielfalt im Werk" (S. 39) Viebigs. Insbesondere ihren "nichtfiktionalen Sachtexte [n]"ist "bisher wenig Beachtung geschenkt" worden (S. 39), wie die Autorin zu Recht beklagt. Unter ihnen etwa Reise- und Landschaftsbeschreibungen, autobiographische Schriften, Rezensionen, Nekrologe, Offene Briefe und Aufrufe. Zudem wurde Viebig des Öfteren gebeten, an Umfragen teilzunehmen. So etwa 1912 zu der Frage "Haben Frauen Humor?". Ihre schlagfertige Antwort lautete: "Immerhin genug, um diese Frage nicht ernst zu nehmen" (zit. nach S. 178). Ein Jahr später äußerte sie sich in einer weiteren Umfrage zu der Forderung nach einem Wahlrecht für Frauen skeptisch: "Berechtigt mag das Frauenwahlrecht vielleicht sein, doch müssten die Frauen dazu erst andere werden" (zit. nach S. 179). Überhaupt zeigte sich Viebig gegenüber den Bestrebungen der Frauenbewegung überraschend distanziert. Entsprechend merkt Braun-Yousefi an, dass "die Stellungnahmen der für starke Frauenfiguren bekannten Schriftstellerin zu Frauenfragen wenig emanzipatorisch anmuten" (S. 184f.). Da sie "heraus aus der bürgerlichen Enge und Anschauung einen Beruf gewählt habe, der die Fesseln der konventionellen, veralteten Vorurteile abstreifte", sei sie allerdings selbst "vielleicht [ ... ] unbewußt schon eine der vielen Vorkämpferinnen der Frauenbewegung gewesen", vermutete sie im hohen Alter, als ihr Kopf bereits von "einer Fülle silbernen Haares" umrahmt war.

In einer weiteren (von Yousefi-Braun nicht zitierten) Umfrage aus dem Jahr 1930 Zum Thema "Eifersucht" erklärte Viebig denn auch, sie fände es "schön und richtig", dass "Frauen heute selbständig [sind]" und "ihren Beruf haben", fügte jedoch an: "Aber an den Grundbeziehungen der Geschlechter ändert das wenig", zu denen aufgrund des "natürliche[n] Trieb[es] des Besitzwillens" auch "die Ewigkeit der Eifersucht" gehöre. Bezüglich des Geschlechterverhältnisses hatte sie sich bereits 1928 in einer "Betrachtung über das Wesen des modernen ‚Mannes" (S. 180) ähnlich konservativ geäußert:

Ich denke, die Mode, die den Mann als notwendiges Übel hinstellt, wird noch schneller als sonst Mode es tut, verschwinden und wieder einem vernünftigen Ausgleich der Geschlechter weichen, einem Ausgleich, der natürlichen Bedingungen Rechnung trägt. Denn die Natur lässt sich nicht mit geistreichen Stilübungen austreiben (zit. nach S. 181).

Im zweiten, umfangreichsten Teil, "Einsichten", wendet sich die Autorin zunächst dem "Diktat des Zeitschriftenmarktes" (S. 47) zu, dem Viebig zu Beginn ihrer schriftstellerischen Tätigkeit in besonderem Maße unterworfen war, da sie darauf angewiesen war, ihre "Haushaltskasse durch das Abfassen von Geschichten für Zeitungsfeuilletons aufzubessern" (S. 47). Dass diesen frühen Publikationen keine intrinsische Motivation zugrunde lag, lässt sich leicht nachvollziehen, wenn man sich vor Augen hält, dass die eingereichten Manuskripte von Korrespondenzbüros an die Zeitschriften vermittelt wurden. Dabei herrschten rigide Vorgaben, die sowohl den Inhalt wie auch die Form der Artikel betrafen. So mussten sie "formal von Kürze, Prägnanz und Anschaulichkeit geprägt sein" (S. 50). Oft war die Zeilenzahl auf nicht mehr als Einhundert begrenzt. Vor allem aber waren die Feuilletons so zu schreiben, dass sie "ohne große Umstände für die jeweiligen Blätter passend gemacht werden konnten" (ebd.). Denn die Redaktionen übten ihr vertraglich abgesichertes Recht "Textänderungen vorzunehmen" (ebd.) weidlich aus. Auch Viebigs Feuilletons haben diesen Prozess durchlaufen. Es handelt sich zumeist um "Geschichte[n] einer Liebe mit mehr oder weniger glücklichem Ausgang" (S. 53f.).

Nicht nur Viebigs Feuilletons und Sachtexte wurden von der Forschung bislang wenig berücksichtigt, sondern auch ihre frühen Märchen sowie ihre cineastischen Arbeiten. Beiden wendet sich Braun-Yousefi ebenfalls im zweiten Teil ihres Buches zu. Dabei entwickelt sie eine Reihe interpretatorischer Ideen, die in aller Regel plausibel sind. Allerdings scheint ihr zu entgehen, dass im Zentrum des Märchens Die Schneeflocken (1903) ein emanzipatorisches Thema steht. Denn die "Prinzessinnen des Königs des Nordens" (S. 78) begeben sich entgegen der Anordnung ihres Vaters auf eine Reise in die Welt.

Im launig "Als die Bilder laufen lernten" (S. 91) betitelten Unterabschnitt des zweiten Teils beschreibt die Autorin zunächst die cineastischen Verarbeitungen literarischer Werke der Schriftstellerin. Anschließend wendet sie sich der Drehbuchautorin Viebig zu. Dabei umreißt sie auch die zeitgeschichtlichen und technischen Bedingungen, unter denen Viebig ihre Drehbücher schrieb. So geht sie etwa auf damalige Leitfäden für (angehende) Drehbuchautorinnen ein. Außerdem informiert der Abschnitt über die zeitgenössische Rezeption der nach Viebigs Drehbüchern entstandenen Filme. Dabei lässt Braun-Yousefi es sich nicht nehmen, eigene wertende Bemerkungen zu den Drehbüchern einzufügen. So moniert sie etwa, dass die "deprimierende Handlung" in dem vom Schicksal eines Strafgefangenen handelnden Film DER GAST AUS DER ANDEREN WELT "nicht immer motiviert erscheint" (S. 133). Andererseits merkt sie positiv an, dass der 1914 uraufgeführte Stummfilm schon damals eine "implizite Kritik an fehlenden Resozialisierungsmöglichkeiten im Strafvollzug" erkennen ließ (S. 134). Die zahlreichen Szenenfotos stechen in dem insgesamt reich bebilderten Band besonders hervor, bieten sie doch einen recht guten Eindruck von der visuellen Machart des verlorengegangenen Films.

In weiteren Kapiteln des zweiten Hauptteils, vertritt die Autorin etwa die etwas gewagte These, "Aphorismen" seien "eine frühe Art des "twittern" oder "posten"" (S. 161) gewesen, und wirft einen genauen Blick auf Viebigs umstrittenen Roman Insel der Hoffnung, bei dem es sich Braun-Yousefi zufolge "stoffgeschichtlich" um "eines der interessantesten Werke" Viebigs handelt (S. 142).

Das weitaus umfangreichste Kapitel des Buches beschließt den mittleren Hauptteil. Es gilt Viebigs "Agitation mit der Feder" (S. 187) und geht auf eine Reihe von Stellungnahmen der Schriftstellerin zu zeitgeschichtlichen Ereignissen wie dem Lex Heinze ein, das "unsittliche" Darstellungen in Kunst und Literatur unter Strafe stellte. Auch die Behandlung einiger Rezensionen Viebigs findet hier ihren Platz. Etwa diejenige zum damaligen "Skandalroman" (S. 170) Das gefährliche Alter (1910), in dem sich die dänische Autorin Karin Michalis für die "sexuelle und persönliche Selbstbestimmung der älteren Frau" (S. 172) stark machte. Zu Recht wundert sich Braun-Yousefi, dass Viebig "in den allgemeinen Sturm der Entrüstung [...] mit ein[stimmte]" (ebd.), obwohl sie mit dem in der Frankfurter Zeitung in Fortsetzungen erschienenen Roman Das Weiberdorf (1899) selbst ein literarisches Werk verfasst hatte, das "wegen der Überschreitung moralischer Schranken gerügt" worden war (S. 173).

Entgegen der Unterüberschrift "Stellungnahmen zum Geschehen beider Weltkriege" (S. 187) wird in Viebigs einschlägigen Texten und so auch in diesem Kapitel vor allem der Erste Weltkrieg behandelt, sodann an zweiter Stelle die Zeit der Weimarer Republik. Viebigs Wirken zur Zeit des Zweiten Weltkriegs sind hingegen nur wenige Seiten gewidmet. Das erklärt sich daraus, dass sie zu dessen Beginn bereits in ihren Achtzigern stand.

Viebig unterzeichnete nicht nur verschiedene Aufrufe und veröffentlichte selbst politische Appelle, sondern hat nicht zuletzt zwei Antikriegsromane - Töchter der Hekuba (1917) und Das rote Meer (1920) - verfasst, auf die Braun-Yousefi mit dem zutreffenden Hinweis, dass beide Werke eigentlich "einer eigenen eingehenden Betrachtung bedürften", im Rahmen des vorliegenden Buches "nur kursorisch" (ebd.) eingeht. Das ist zwar nachvollziehbar, aber bedauerlich. Zumal in ihnen auch die Geschlechterrollen in Viebigs Werken deutlich hervortreten. In Die Töchter der Hekuba sind es etwa die Frauen, namentlich die Mütter an der "Heimatfront", die sich gegen den Krieg wenden. Dabei liest sich ihr Antikriegsroman über weite Strecken als direkte Antwort'auf das ein Jahr zuvor erschienene kriegsverherrlichende Werk Die Opferschale von Ida Boy-Ed.

Die Figur der - verheirateten oder auch ledigen - Mutter spielt allerdings nicht nur in diesem Roman, sondern in zahlreichen literarischen Werken Viebigs eine bedeutende Rolle. Viebig selbst erklärte 1930 in einem ihrer kurzen autobiographischen Texte: "Das Problem Mutter und Sohn hat mich oft beschäftigt; in all meinen Büchern spielt es irgend eine Rolle." Braun-Yousefi geht allerdings nicht näher auf die Motive in Viebigs literarischem (Euvre ein, so auch nicht auf das der Mutterschaft und der Mutter/Sohn-Beziehung.

Auch zu eventuellen Anleihen der Literatin bei der Psychoanalyse findet sich in Braun-Yousefis Monographie nichts. Allerdings zeichnet sich Viebigs fiktionales Werk auch nicht eben durch eine Psychologisierung ihrer Figuren aus.

Anstelle einer näheren Behandlung der beiden Antikriegsromane stellt die Autorin "neuere Funde" vor, die sie in einen "vertiefenden historischen und literarischen Kontext" (S. 189) einbindet. Die Öffentlichkeit mit diesen Texten bekannt zu machen, ist natürlich verdienstvoll. So erfährt man etwa, dass Viebig zu Beginn des Ersten Weltkriegs eine apologetische Erklärung für den "heiligen Kampf" um "Recht und Würde" (zit. nach S. 210f.) der Deutschen unterzeichnete und sich gegen deren Verunglimpfung als "Barbaren" aussprach (zit. nach S. 212). In Zusammenhang mit Viebigs Einlassungen zum Ersten Weltkrieg äußert sich Braun-Yousefi denn auch schon einmal kritisch. "Aus Viebigs Stellungnahme" gegen den an die Deutschen gerichteten Vorwurf der Barbarei spricht der Autorin zufolge zwar "das ehrliche Entsetzen über die in der Tat verunglimpfende Kriegspropaganda der Alliierten", doch "[erscheint] ihr Blick hier verengt", "da die deutsche Propaganda kaum besser handelte" (S. 215). Eine zweifellos berechtigte Kritik. Doch handelten die Deutschen in dieser Hinsicht sicher nicht nur "kaum besser", sondern überhaupt nicht besser als ihre Kriegsgegner.

Nach dem Krieg setzte sich Viebig für die von den Franzosen besetzten Gebiete ein, da sie um ihre "geliebte Eifel" bangte (S. 234). Vor allem aber blies sie 1923 mit ihrer Novelle Heinrich Veiten in das gleiche Horn wie die rassistische Rheinische Frauenliga in ihrer Broschüre Farbige Franzosen am Rhein. Ein Notschrei deutscher Frauen (1920).

Insgesamt, so konstatiert Braun-Yousefi kritisch, lassen Viebigs literarische wie auch die nicht-fiktionalen Texte zum Geschehen während des Ersten Weltkriegs "die reflektierte Auseinandersetzung mit den Hintergründen der Weltkatastrophe [vermissen] " (S. 246).

Wie der vorliegende Band eindrücklich zeigt, handelt es sich bei seiner Verfasserin um eine profunde Kennerin der Werke Viebigs. So kann er mit zahlreichen Informationen über kleinere nichtliterarische, weithin unbekannte Publikationen der Schriftstellerin aufwarten und damit den Blick auf Viebigs vielfältiges (Euvre weiten. Dabei hat Braun-Yousefi alles andere als eine Hagiographie vorgelegt, sondern vielmehr eine Darstellung, die auch da ausgewogen bleibt, wo Viebigs Stellungnahmen zum Zeitgeschehen kritikwürdig sind.

Rolf Löchel


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