Rainer Waßner

Gestalt und Gestalten der Soziologie in Hamburg

Zum 100. Geburtstag der Universität

Rezension


Anlässlich des 100. Geburtstages der Universität Hamburg, deren Gründung 1919 geschah, ist eine neue Auflage des Buches "Gestalt und Gestalten der Soziologie in Hamburg" erschienen.

Gegenüber der ersten von 2014, bietet diese zweite Auflage von 2018 mit dem Untertitel "Zum 100. Geburtstag der Universität" sechs neue Texte von Rainer Waßner, darunter eine wichtige Ergänzung zum Beitrag über Ferdinand Tönnies - "der Pionier" mit der Überschrift "Erlösung durch Ethik? Die Öffentliche Meinung als die `rationalisierte Form der Religion´. Eine Skizze", sowie sämtliche Beiträge über: Cassirer - "Glück, Sitte, Sittlichkeit - Ethik im Denken des Hamburger Philosophen Ernst Cassirer", Rudolf Heberle - "Wahlen in Schleswig-Holstein im Sommer 1932. Rudolf Heberles klassische Studie", Helmut Schelsky - "Helmut Schelsky. Soziologe und Antisoziologe", Ralf Dahrendorf - "Der Soziologe Ralf Dahrendorf" und Alexander Deichsel - "Soziologie als `Naturlehre des Sozialen´. Alexander Deichsel im Rahmen der Hamburger Soziologie". Diesen Wissenschaftlern ist gemeinsam, dass sie die Grenzen der Universität Hamburg - und bei den meisten auch die ihres Landes - überschritten, und zwar nicht nur, weil sie ihre wissenschaftliche Laufbahn anderswo fortsetzten, sondern weil sie ein philosophisches und soziologisches Denken entwickelten, das die Entwicklung der westlichen Gesellschaftstheorie nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich beeinflusst hat: Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten muss Cassirer wegen seiner jüdischen Herkunft erst nach England, dann nach Schweden und zuletzt in die USA fliehen, wo er 1944 sein spätes Buch "Essay on man", eine komprimierte und zugleich überarbeitete Fassung seiner Kulturphilosophie, veröffentlicht. Heberle, der die Ursachen für den Erfolg der Nationalsozialisten in Schleswig-Holstein erforscht, deren Ergebnisse 1934 kein Verlag veröffentlichen möchte, und entfernte jüdische Herkunft haben soll, emigriert 1938 - nach einem Ruf an die Louisiana State University - ebenfalls in die USA, wo er vor allem durch seine vergleichenden Studien über Massenbewegungen und Untersuchungen über den Wandel des "alten Südens" der USA bekannt wird. Schelsky, der in Hamburg (und dann in Münster und Bielefeld) eine Schule gründet (1953-1960), die im Gegensatz zur Frankfurter und Kölner Schule paradoxerweise keine Schüler hatte, denn bei ihm sollte jeder seine eigene Methode finden (Waßner, S. 75). Nach Schelsky soll die Soziologie als Wirklichkeitsanalyse der Gegenwart aus einer unvoreingenommenen Position heraus verstanden werden. Dahrendorf studiert Philosophie und schreibt eine Dissertation über den Begriff des Gerechten im Denken von Marx an der Akademie für Gemeinwirtschaft Hamburg - ab 1970 Hochschule für Wirtschaft und Politik -, an der er von 1958 bis 1960 den Lehrstuhl für Soziologie übernimmt. Dann kommen Tübingen, Konstanz, sein Engagement für die Freie Demokratische Partei in der deutschen und europäischen Politik sowie seine akademische und politische Laufbahn in Großbritannien: London School of Economics, University of Oxford und House of Lords. Sein Interesse an sozialer Integration von Arbeitern, verbunden mit seiner Theorie der Institutionalisierung des industriellen Konflikts, münden in seine Gesellschaftsauffassung: "Die erstrebenswerte Gesellschaft zeichnete sich für ihn nun durch die Kombination von Freiheit, Wohlstand und sozialem Zusammenhalt aus". Nicht zuletzt hat Deichsel - von 1977 bis 2004 Professor für Soziologie in Hamburg - auf den Spuren des Initiators der Markentechnik, Hans Domizlaff, die Markensoziologie begründet und in diesem Bereich insbesondere in der Schweiz, bei der Gründung des Instituts für Markentechnik in Genf, mitgewirkt.

Die Texte über die angesprochenen Intellektuellen in der 2. Auflage von Gestalt und Gestalten der Soziologie in Hamburg. Zum 100. Geburtstag der Universität werden mit weiteren Beiträgen von Rainer Waßner, Alexander Deichsel, Gregor Siefer, Gerhard Kleining, Nikolay Golovin, Torsten Sturm, Eckart Krause und Bernd Thuns über Andreas Walther, Hans Domizlaff, Heinz Kluth, Janpeter Kob, Christa Hoffmann-Riem, Klaus Eichner sowie über die Soziologie nach 1945, den Mythos der 68er und die Hamburger Soziologie, den Alumni-Verein Hamburger Soziologinnen und Soziologen, den "Pferdestall" und die Orte der institutionellen Soziologie an der Universität Hamburg ergänzt, die schon in der ersten Auflage von Gestalt und Gestalten der Soziologie in Hamburg enthalten waren. Sie alle zeugen von der bedeutenden wissenschaftlichen Produktivität der Soziologie und anderer Fächer rund um die Gründung der Universität Hamburg und auch in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg.

Dreißig Jahre vor der Universitätsgründung, 1919, wurde in der Hansestadt bereits Sozialwissenschaft betrieben. Der Begründer der Soziologie in Deutschland, Ferdinand Tönnies (1855-1936), lebte im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in Hamburg und führte dort wegweisende empirische Untersuchungen durch: Erste Untersuchungen zur Kriminalität und Berichte zum großen Hafenarbeiterstreik der Jahre 1896/97. 1887 hatte Tönnies sein Grundwerk Gemeinschaft und Gesellschaft veröffentlicht, bei dem er den soziologischen Sinn vor Augen hatte, "und dieser hat Gegenbild und Analogie in der Theorie des individualen Willens". Die menschlichen Beziehungen seien dementsprechend sozial, wenn sie gewollt und bejaht sind, sei es mit dem Wesenwillen oder mit dem Kürwillen. Das Buch Gestalt und Gestalten der Soziologie in Hamburg beginnt mit den erwähnten Erhebungen in Hamburg, die mit einem Text über sein Konzept zur Öffentlichen Meinung ergänzt werden. Dieses wird schon auf den letzten Seiten seines populären Werkes von 1887 vorangekündigt, in dem Tönnies die sozialregulative Bedeutung der öffentlichen Meinung für die Moderne herausstellt: "Der Bezug zur Religion bleibt konstitutiv, hebt jetzt freilich mehr auf die mit der öffentlichen Meinung verbundenen Sanktionsmechanismen ab". Wesentlich für die öffentliche Meinung ist "ihr einmütiges moralisches Urteil über Haltungen und Handlungen, die auf Staat, Gemeinwohl, öffentliche Angelegenheiten bezogen sind; Urteile, die gelten und zur Pflicht werden sollen wie analog in der Religion die Glaubenssätze". Solche Einmütigkeit macht ihre imperativische Macht über die Gemüter plausibel. Im begrifflichen Sinn ist sie, die öffentliche Meinung, die Nachfolgerin der Religion, gleichwohl keine Religion deren zurückgehender Einfluss integraler Bestandteil der Moderne ist. Die mit Majuskel geschriebene Öffentliche Meinung vertritt die menschheitlichen Postulate der Aufklärung, universalistische Ideen, getragen von einer gebildeten Öffentlichkeit, die sich unsichtbar wie ein ideeller Gerichtshof versammelt, um sittliche Urteile zu fallen. Tönnies liefert eine geistreiche, relativ wenig bekannte und ziemlich aktuelle Konzeptualisierung der Öffentlichen Meinung, die Rainer Waßner mit einer gewandten Sprache und einem starken Bezug zur gegenwärtigen deutschen Gesellschaft reflektiert.

Aus Vorträgen und Wiederveröffentlichungen hervorgehend, bezeugen die ausgesuchten Texte die zahlreichen koexistierenden Perspektiven auf das Soziale im Verlauf der Geschichte der Soziologie in Hamburg, die die Kontinuität soziologischen Arbeitens als ein ganzes Spektrum von Methoden, selbstgestellten Aufgaben, Konzeptionen, Denk- und Handlungsorientierungen widerspiegelt. Wie der Herausgeber Rainer Waßner erläutert: "So unterschiedlich, zuweilen inkompatibel die wissenschaftlichen Vorgehensweisen und Ergebnisse auch waren, teilten sie eine, freilich selten ausgesprochene Grundeinstellung: das Soziale war allen nur eine von vielen Blickweisen auf das menschliche Leben; einen radikalen Soziologismus hat es in Hamburg ebenso wenig gegeben wie Ansprüche auf exklusive Deutungshoheiten".

Darüber hinaus weckt die Lektüre des Buches Gestalt und Gestalten der Soziologie in Hamburg großes Interesse an einer umfassenderen Beschäftigung mit der Geschichte der Hamburger Soziologie. Welche Berechtigung hätte eine solches Vorhaben? Für Dirk Käsler liegt in seinem Klassiker der Soziologie (1976) der Grund auf der Hand: Unsere Identität als Wissenschaftler können wir nicht finden, "ohne den historischen 'Grund' zu kennen, auf dem wir stehen, wir haben also ein 'praktisches' Interesse an der Geschichte unserer Disziplin".

Abschließend ist noch auf zwei Merkmale des rezensierten Buches aufmerksam zu machen: Der Verzicht auf Fachjargon sowie der konstante Bezug auf das historische, wissenschaftliche und politische Umfeld der Texte. Beides ist in hohem Maße geeignet, entscheidend dazu beizutragen, der neuen Generationen von Soziologen ein Gedächtnis ihrer Wissenschaft an der Universität Hamburg zu geben.

Ana Isabel Erdozáin


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