Ellen Wilmes

Nicht-Dualität

Dôgen Zenji trifft Michel Henry

libri nigri Band 67

Rezension


In wissenschaftlichen und philosophischen Ansätzen, welche ihre Gegenstände - nicht zuletzt aus empirischen Gründen - in einer Weise beschreiben, so dass die Beschreibung ihrerseits in der Theorie vorkommt, taucht unweigerlich der Beobachter auf, um dann jedoch bei weiterem Forschen feststellen zu müssen, dass genau dieser Beobachter nicht bestimmt oder fixiert werden kann. Solche Theorieanlagen, insofern sie auf hohem erkenntnistheoretischem Niveau entfaltet werden, führen in Grenzgebiete, die traditioneller Weise von den mystischen Traditionen besetzt werden. Philosophische Vorhaben, die in diese Sphären vorstoßen möchten, sind legitim und berechtigt, wenn gewisse Vorsichtsmaßnahmen eingehalten, die einem Abdriften in intellektuell unredliche esoterische Auffassungen vorbeugen lassen.

Insbesondere Ludwig Wittgenstein hat dieses Genre als philosophische Textform zur Reife gebracht: Mit den Mitteln der Sprache gegen die Grenzen der Sprache anreden zu können. Wittgenstein endet bekanntlich mit dem Diktum "Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen," um damit zugleich zu demonstrieren, dass man zugleich doch darüber reden kann und muss, denn das, worum es geht, erscheint zugleich als das Eigentliche was uns Menschen ausmacht (siehe Ludwig Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1989).

Wittgensteins philosophische Leistung besteht gerade darin, einen Text zu entfalten, der zugleich im Sinne des Common Sense propositionale Gehalte entfaltet und zugleich etwas anderes zeigt. Der tiefere Wert seiner Texte offenbart sich in dem hierin zum Ausdruck kommenden injunktiven Gebrauch von Sprache - also darin, Handlungsanweisungen zu geben, also einzuladen, eine bestimmte Haltung einzunehmen, und von dort aus bestimmte Schritte zu gehen, die dann zu einer anderen Haltung - zu einem anderen Selbst- und Weltverhältnis - führen. Man muss die Leiter erst hochsteigen, um sie wegwerfen und dann einen "Sprung" machen zu können.

Ellen Wilmes' Studie steht in der benannten Tradition und in diesem Sinne ist der "Sprung" einer der zentralen Begriffe ihrer Arbeit. Wilmes greift mit Michel Henry einen Phänomenologen auf, der seinerseits Sprache in einer Weise anzuwenden versucht, um mit den Mitteln der Sprache über die Sprache hinauszugelangen. Henrys Phänomenologie wird wiederum als ein Dialogpartner genutzt, um die Schriften Dogen Zenji aufzuschließen.

Die vorliegende Arbeit operiert und argumentiert auf unterschiedlichen Ebenen. Zunächst ist hier die textexegetische Seite in Hinblick auf die Quellenliteratur von Henry und Dogen zu nennen.

Eine weitere Ebene der Arbeit besteht in dem systematischen Vergleich anhand ausgewählter Themenstellungen, die als Tertium Comparationis den Vergleich strukturieren und in getrennten Kapiteln abgehandelt werden (im Einzelnen: das Absolute Idem; die Beziehung von Körper und Geist; Dualität und Nicht-Dualität, Phänomenologie der Gleichzeitigkeit; das Problem der Ausschließlichkeit; Kausalität und Zeit sowie Fragen einer (impliziten) Ethik).

Eine dritte Ebene der Arbeit besteht im injunktiven Gebrauch der Sprache, also darin, Worte nicht nur mit Blick auf die mit ihnen vermittelten propositionalen Gehalte zu verwenden, sondern auch in Hinblick auf das, was durch eine bestimmte Anordnung von Worten und Markierungen (etwa ungewöhnliche Schreibweisen), wie auch durch das Einflechten von Beispielen gezeigt werden kann. Hierdurch wird der Lesefluss gebrochen, wodurch das Augenmerk von den Inhalten auf den Modus der Darstellung verschoben wird, wodurch beim Leser ein Perspektivenwechsel angeregt wird. Die induzierten Wechsel laden den Leser gewissermaßen dazu ein, seinerseits einen "Sprung" zu machen, der die Logik der eigenen (Lese-) Praxis phänomenologisch in den Blick nehmen lässt:

"Dogen spricht vom Unbegreiflichen, das hinter dem Wissen erscheint; es geht über das Wissen, das als Wissen spezifiziert wird, hinaus. Henry nennt dieses Wissen, dasjenige, das in seiner ‚tiefsten Gestalt' vorliegt und dem Leben angehört als ein lebendiges und ursprüngliches Wissen." (73f.)

In einer vierten Ebene expliziert Wilmes die von ihr vollzogene performative Praxis. Wilmes greift dabei auf zwei methodologische Haltungen zurück, zum einen auf die "phänomenologische Gegenreduktion" von Henry, zum anderen auf die Methode der "tripartite elucidation" von Dogen. Letztere besteht aus einem Dreischritt: der Bejahung des Phänomens, der Verneinung des Phänomens und der Verneinung der Verneinung des Phänomens, wobei die letztgenannte Verneinung nicht einfach die vorherige Verneinung aufhebt, sondern zugleich den Blick auf die Unterscheidung lenkt, die den logischen Raum von Bejahung und Verneinung aufspannt - und diesen damit kontingent setzt.

Kommen wir zu einigen, ausgewählten Ergebnissen der Arbeit: Zunächst zeigen sich deutliche Parallelen zwischen Dogen und Henry im Versuch über eine implizite Dimension zu erreichen, die gewissermaßen so Nahe liegt, dass sich darüber nicht sprechen lässt. Der von Wilmes gewählte - auch in Form von Beispielen und Metaphern vorgeführte - Zugang zielt dabei insbesondere darauf, die Verbindung von Sinnlichkeit und Körper zu reformulieren: "Sinn ist Sinn im Sinne von Sinnen. Sinnen tut die KörperGeistung. Die KörperGeistung ist die Präsenz des augenblicklichen Erlebens." (109) Die Trennung beruht demgegenüber auf dem "Übersehen des haltenden Sinnes" durch das "Festhaltenwollen" des "denkenden Sinns", das dann "die sogenannten Luftschlösser entstehen" lässt, "die auch Ängste sein können. Die Luftschlösser sind die Trennung, die eine Identifikation mit den Sinnen des Eigenen schwinden lässt." 110)

Als grundlegendes Problem des Menschen (gewissermaßen als seine conditio humana) erscheint damit eine bestimmte, durch die zweckgerichteten Überlebensprogramme des Menschen formatierte Haltung des Denkens, nicht jedoch das Denken an sich, da eben letzteres seinerseits Ausdruck des körperlich-geistigen Prozesses ist und damit nicht verschieden vom absoluten Idem sein kann. Problemhaft erscheint nur ein Denken, das sich gewissermaßen mit sich selbst verwechselt und somit von der eigentlichen sinnlichen Basis entfernt.

Körper und Geist erscheinen hiermit als Ausdruck derselben Bewegung, womit auch ein bestimmtes Verhältnis zur Zeit deutlich wird (dies wird in einem eigenständigen Kapitel umfassend expliziert): Es zeigt sich nämlich, "dass jeder Mensch und jedes Ding in diesem ganzen All für sich allein stehende, individuelle Augenblicke der Zeit sind." (150). Die Zeit fällt nämlich mit der KörperGeistung zusammen.

Auf diese Weise gelingt es Wilmes auch, die Diskussion um die Frage des Verhältnisses von Dualität und Nichtdualität aus dem Bereich der esoterischen Verklärung heraus zu führen. ‚Nichtdualität' darf jetzt nämlich nicht mehr mit der tranceartigen Erfahrung differenzloser Alleinheit verwechselt werden. "Dualität und Nicht-Dualität" erscheinen jetzt gewissermaßen beides als Zustände, die gemacht bzw. getan werden. Sie erscheinen jetzt "sozusagen" als "‚Eigen'-schaften der KörperGeistung" (169).

An verschiedener Stelle der Arbeit werden die ethischen Implikationen der zuvor entfalteten ‚KörperGeistung' deutlich. Zunächst weist Wilmes auf die Eigenverantwortung des Menschen für die benannten Prozesse hin, denn "die Setzungen sind die Ursachen- und Wirkungsfelder, die nicht enden, weil wir sie als KörperGeistung permanent setzen und sogar selbst sie sind." (295) Hiermit erschließt sich aus einer philosophischen Perspektive, der alte buddhistische Begriff des Karmas. Wie Wilmes aufzeigt, ergibt sich dabei jedoch ein wichtiger Unterschied zwischen Henrys Lebensphilosophie und dem Zen Buddhismus. Erstere ist vom Selbst bzw. vom Ich her gedacht, letzterer nimmt seinen Ausgangspunkt im Nicht-Ich bzw. Nicht-Selbst. Solchermaßen informiert kann sich eine (implizite) Ethik nur in Form eines "ethischen" Handelns entfalten, das als "ohne Macht" erscheint (316). Der hier von Wilmes in ausgezeichneter analytischer Schärfe aufgezeigte Zusammenhang ist komplex, beruht er doch auf einer Reflexivität, durch welche der Mensch seine eigenen Setzungen und Programme bemerkt, um auf diese Weise zugleich die konditionierte Koproduktion zu begreifen, also die Tatsache, dass sich die Programme nicht ihm selbst verdanken, sondern einem unendlichen Beziehungsgeflecht, das jegliche individuelle Setzung überschreitet.

Eine solchermaßen fundierte Ethik ist in einem fundamentalen Sinne frei. Sie beschränkt sich entsprechend nicht einmal auf das Gebot der Liebe (wie Henry es in Referenz auf christliche Spiritualität noch tut). Die mit Dogen entfaltete Spiritualität ist demgegenüber total, sie schließt nichts aus, geht dabei jedoch niemals in die Verantwortungslosigkeit über, da der Sprung ins absolute Idem per Definitionem die Verflechtungen des Lebens aus der Perspektive des Nicht-Ichs fühlen lässt.

Die ausgewählten Ergebnisse verdeutlichen pars pro toto den Reiz der vorliegenden Arbeit.

Es wird aber ebenso deutlich, dass die "Übersetzung" nicht zu Ende ist und selbstredend kann eine solche Übersetzung nicht zu einem Ende kommen. Mit Blick auf das vorliegende philosophische Genre stellt dies aber kein Manko dar, denn worüber man nicht sprechen kann, darüber braucht man auch in Zukunft nicht zu schweigen.

Werner Vogd


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