Martin Werner

Wer war der Apostel Paulus?

herausgegeben von Jochen Streiter

Rezension


Dem Wuppertaler Theologen Jochen Streiter gebührt das Verdienst, mit der Herausgabe dieser Schrift den weithin vergessenen Schweizer Theologen Martin Werner (1887-1964), der als klassischer Repräsentant des liberalen Protestantismus und als Gegenspieler Karl Barths in der Schweiz theologiegeschichtlich eingeordnet werden kann, mit der Herausgabe der hier zu besprechenden Schrift neu in Erinnerung zu rufen. Werner, stark von Albert Schweitzer beeinflusst, war zunächst Neutestamentler und später systematischer Theologe. Er hat sich neben seiner Tätigkeit als Universitätslehrer in vielerlei Hinsicht in der Evangelischen Kirche des Kantons Bern engagiert und in diesem Zusammenhang eine Vielzahl theologischer Vorträge vor einer breiten, interessierten Öffentlichkeit vorgetragen. Aus einer entsprechenden Vortragsreihe ist auch die hier vorliegende Abhandlung über Paulus hervorgegangen, die einen prägnanten Eindruck über die Arbeitsweise und das theologische Profil Werners vermittelt.

In den ersten drei Abschnitten dieser Schrift werden sowohl das methodische wie auch das didaktische Geschick Werners deutlich. Ihm gelingt es hier auf kurzem Raum, die Gattung der Briefe des Paulus als prägnante Selbstzeugnisse in jeweiliger Relation zu den Adressatengemeinden vor dem Hintergrund eines allgemeinen Verständnisses der antiken Briefliteratur zu profilieren. Dabei nimmt er teilweise sozialgeschichtliche Fragestellungen - avant la lettre - vorweg. In einem weiteren Schritt werden die Berichte der Apostelgeschichte im Blick auf ihre Spannungen und Widersprüche zu den Selbstzeugnissen des Paulus wie aber auch hinsichtlich ihrer wichtigen, ergänzenden Bedeutung für dessen Biographie in den letzten ca. zwölf Lebensjahren gewürdigt. Dieser historische Zugang wird zusammenfassend gebündelt in einem kurzen Überblick über den Lebensweg des Apostels, wobei Werner mit Nachdruck dessen "jüdisches Selbstbewusstsein" (40) und die bleibende Prägung als "schriftgelehrter Rabbi" (42) herausstellt. Die Lebenswende des Paulus vor Damaskus tituliert Werner, in Anführungszeichen gesetzt: als "Bekehrung", wobei er hier grundlegende Hinweise auf die theologische Bedeutung dieses Ereignisses im Blick auf die paulinische Gesetzeskritik einfügt. Die im Kontext des christlich-jüdischen Dialoges gewonnene Perspektive, dieses Ereignis weniger als "Bekehrung", sondern als "Berufung" zu deuten, wird - bei wohlwollender Lektüre - immerhin angedeutet. Insgesamt gelingt es Werner sehr überzeugend, die Erträge der historisch-kritischen Erforschung der Schriften des Paulus anschaulich darzustellen.

Wichtiger als diese Hinweise zum äußeren Lebensweg ist der in den folgenden Abschnitten durchgeführte Versuch, die "Eigenart der Persönlichkeit" (53) des Paulus herauszuarbeiten. In diesen Abschnitten erweist sich Werner erneut als hervorragender Repräsentant der liberalen Theologie, der es vorrangig darum geht, die Persönlichkeit eines Menschen als Ausdruck seines Selbstbewusstseins darzustellen. Auch wenn an einigen Stellen ein vielleicht etwas zu stark psychologisierendes Bild des Paulus gezeichnet wird, gelingt es Werner eindrücklich, die starken affektiven wie auch kognitiven Seiten der Persönlichkeit des Paulus anhand seiner Briefe aufzuzeigen. Von theologisch hoher Relevanz ist der von Werner aufgezeigte Zusammenhang zwischen dem Selbstbewusstsein des Paulus und dessen "Amts- oder Sendungsbewusstsein" (61). Werner gelingt es hier zu zeigen, wie die Verpflichtung zum Heidenapostel Paulus einerseits eine nahezu unerschütterliche Selbstgewissheit und innere Stärke vermittelt hat und ihm andererseits angesichts der Größe dieser Aufgabe immer wieder seine eigene Schwäche und Unzulänglichkeit vor Augen gestellt worden ist. In diesem Zusammenhang skizziert Werner auch die problematischen Seiten eines übersteigerten Sendungsbewusstseins, die leicht zum Fanatismus führen können, bei Paulus immer wieder durch die inhaltliche Ausrichtung seiner Botschaft auf die Liebe (vgl. 1. Kor. 13) eine heilsame Begrenzung erfahren. Auch diese Thematik lässt sich auf gegenwärtige ekklesiologische Debatten beziehen.

Fundiert ist dieses Persönlichkeitsprofil in der besonderen Art des Christusglaubens des Paulus. Diesbezüglich bezieht sich Werner grundlegend auf Schweitzer, indem er dessen Deutung von Kreuzestod und Auferstehung Jesu bei Paulus als Ende der alten und Anbruch einer neuen Weltzeit in den Mittelpunkt stellt und diese Interpretation mit der urchristlichen Naherwartung verknüpft. Diese Weltenwende und die mit Kreuz und Auferstehung beginnende Verwandlung der alten in die neue Welt impliziert in der Darstellung Werners einerseits das Ende des Gesetzes als Teil der alten, unvollkommenen Welt und führt andererseits in der Konsequenz der Erwartung der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Christi zu einer starken "Vergleichgültigung" (81) aller gesellschaftlichen Ordnungen bei Paulus. Da sich die Naherwartung nicht bestätigt hat und die Christenheit seither vor einer Vielzahl von "praktischen Lebensfragen" (78) steht, ist diese Haltung der Indifferenz grundsätzlich zu überwinden und insbesondere "sozialen Fragen … heute mehr als je vorher" (81) seitens der Kirche eine hohe Aufmerksamkeit zu widmen. In diesem Sinn ist auch der paulinische Christusglaube zu transformieren, indem nach Werner die zeitlich verstandene Erwartung des Endes der alten und des Anbruchs einer neuen Welt sich auf die Entwicklung des inneren Menschen zu beziehen habe. Die durch den Christusgeist ermöglichte innere Erweckung des Menschen zu einem sinnerfüllten Leben (vgl. 83 f) führt zu der von Paulus beschriebenen Freiheit der Christen, die in ethischer Perspektive immer "zugleich die Freiheit zum Guten" (87) bedeutet. Die Erfahrung dieser inneren Freiheit als Geschenk, die "im Menschen … etwas neu" (89) werden lässt, stellt für Werner das zentrale Element der Relevanz des paulinischen Christusglaubens für die Gegenwart dar. Der für den sozialen Protestantismus charakteristische Schritt, nicht allein eine Erneuerung des Menschen, sondern in Analogie dazu auch eine Erneuerung sozialer Verhältnisse in dieser Konsequenz anzustreben, ist bei Werner angedeutet, jedoch kaum inhaltlich ausgeführt.

Die Neuauflage dieser Schrift Werners erinnert an ein eindrückliches Zeugnis des klassischen liberalen Protestantismus. Auch wenn heute - etwa im Blick auf die Bedeutung der Tora-Weisungen für die christliche Ethik gerade hinsichtlich sozialer und wirtschaftlicher Fragen, die Bedeutung der Apokalyptik für das Denken des Paulus oder hinsichtlich der bleibenden Geltung des Bundes Gottes mit Israel - manche Akzente anders als von Werner gesetzt werden, ist die Auseinandersetzung mit diesem paulinischen Profil nach wie vor herausfordernd und bedeutsam. Insofern gebührt dem Herausgeber wie auch dem Verlag Dank für dieses Projekt, indem eine für die Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts grundlegende Konzeption in ihrer Gegenwartsrelevanz eindrücklich vor Augen gestellt wird.

Prof. Dr. Traugott Jähnichen / Ruhruniversität Bochum


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