Paul Stephan

Wahrheit als Geschichte und Augenblick

Die Kritik der Wahrheit im Werk Friedrich Nietzsches

libri virides Band 35

Rezension


Paul Stephans 2015 in Frankfurt am Main zum Magisterabschluss eingereichte philosophische Arbeit über Nietzsche hält dessen Denken die Treue und will mit einem hartnäckigen, letzten Götzen Schluss machen. Dieser Götze "ist ganz einfach das, was bisher Wahrheit genannt wurde. Götzen-Dämmerung - auf deutsch: es geht zu Ende mit der alten Wahrheit". Spätestens im zweiten Abschnitt der Genealogie der Moral, so beginnt Paul Stephan, legt Nietzsche genealogisch das Gewordensein aller Wahrheiten offen: Damit wendet er sich gegen eine Tradition, die, was auf Ursachen und Absichten rückführbar ist, für unwahr erklärt. Das es ewige Ideen hinter den jeweiligen, endlichen Erscheinungen gebe - dieser von Platon herstammende Chorismus zwischen der geistigen und der sinnlichen Welt beherrscht das Denken oft noch dort, wo es sich davon loszusagen versucht: in Kants Transzendentalphilosophie oder in positivistischen Datensammlungen, Nietzsche versucht aus dieser Tradition auszubrechen, indem er der traditionell hergebrachten Verknüpfung von Wahrheit und Ewigkeit einen eigenen, geschichtlichen Ansatz entgegenstellt: Wahrheit ist entsprungen aus bestimmten geschichtlichen Situationen, wird zu bestimmten Zwecken festgelegt und bildet den Einsatz in Machtkämpfen. Auf dem Spiel steht in eins damit auch die Auffassung von Wahrheit als Übereinstimmung von Denken und Sein, Begriff und Sache. Wie kann Nietzsche noch von Wahrheit sprechen, wo er die Unmöglichkeit dieser Übereinstimmung eingesehen hat und alle Ansprüche auf Allgemeingültigkeit als perspektivische entlarvt? Um die Herausarbeitung dieses gegen die Tradition in Anschlag gebrachten, modernen Wahrheitsbegriffs Nietzsches ist es Paul Stephan in seiner Arbeit zu tun.

Im Anschluss an diese Vorüberlegungen fasst Paul Stephan zunächst in den Blick, welches Risiko mit dieser Wendung gegen die Tradition verbunden ist: Spricht Nietzsche auf diese Weise nicht selbst willkürlichen, subjektiven Setzungen dieselbe Gültigkeit zu? Woher noch das Maß nehmen, das diese Gleichgültigkeit Einhalt gebieten könnte? Lukács - Paul Stephan fasst drei skeptische Positionen zu Nietzsche zusammen - sieht in der Zerstörung der Vernunft durch Nietzsche eine Rechtfertigungsgrundlage für den Faschismus, Habermas bemängelt die immanente Widersprüchlichkeit in Nietzsches Denken und die Inkompatibilität eines (vermeintlich) von Nietzsche ermöglichten, radikalen Irrationalismus mit allen Regeln kommunikativen Handelns; für Heidegger gilt Nietzsches Subjektivismus nicht als Überwindung, sonder als Vollendung der platonischen Metaphysik. Und dennoch - Paul Stephan formuliert jetzt die Gegenseite zu den schon erwähnten Denkern - zeigen etwa Adorno, Foucault oder Deleuze, wie Nietzsches Kritik am akademischen Idealismus und der Entfremdung von Dasein und Denken für das eigene gesellschaftskritische Vorhaben fruchtbar gemacht werden kann.

Was diese Gegenüberstellung angeht, ist sie - allein aufgrund der wenigen Seiten, die für sie verwendet werden - vor der Vereinfachung nicht gefeit. Innerhalb des gesamten Buches hat sie jedoch insofern ihren berechtigten Platz, als ihr einzig die Aufgabe zukommt, den Weg zu einer detaillierten und ausführlichen Auslegung Nietzsches zu ebnen. In diesem Sinne erscheint mir Stephans Versuch weniger als akademischer Abriss der Nietzsche-Rezeption, denn vielmehr als der Versuch, in seiner Wirkung etwas Wesentliches über das Werk auszumachen: das Werk von seiner Wirkung her zu deuten, weil eben diese - vielleicht würde Nietzsche selbst soweit gehen - die Substantialität des Werkes betrifft.

Es ist nun im zweiten Schritt das spezifische Anliegen von Stephan, diese Wirkungsgeschichte des Werkes auf ihr Verhältnis bzw. Missverhältnis zum eigentlichen Werk hin zu überprüfen. Dafür bietet sich eine Textstelle an, die in kondensierter Form Nietzsches Gedankenspektrum über die Wahrheit enthält: Der Abschnitt Wie die "wahre Welt" endlich zur Fabel wurde - der Titel der Arbeit verrät es bereits - steht im Zentrum der Auslegung und wird von Stephan zunächst im Kontext des 1889 publizierten Werkes Götzen-Dämmerung betrachtet. Er nähert sich dieser Textstelle, indem er sich in die Konstellationen hineinbegibt, die in ihrem engsten Umkreis als Motivlagen immer wieder auftauchen. So kommt es zu vier Exkursen über den Zusammenhang von dem Weiblichen und den Idealen, von Parodie und Tragödie, Ressentiment und Antisemitismus und schließlich zu Nietzsches Herrenmoral als einer in der Nähe zu Marx stehenden Kritik der modernen Arbeitersklaverei. Im Zuge der Exkurse werden die wesentlichen Fragestellungen und Spannungsfelder aufgerissen: Wie ist die Setzung von Idealen möglich unter der Bedingung der Einsicht in das grundsätzliche Scheitern jeder Idealsetzung? Steht der amor fati für eine Kapitulation vor der Unausweichlichkeit einer als naturwüchsig erscheinenden Ordnung (Adorno) oder für die entzückte Bejahung und Liebe der Faktizität des Daseins als solchem? Welcher Wahrheitsbegriff ist "Werthmesser", um alle bisherigen Wahrheiten als Grundirrtümer zu entlarven? Gelingt es Nietzsche die korrespondenztheoretische Tradition zu verlassen?

Paul Stephans Buch zeichnet sich auf dem Wege der Beantwortung der skizzierten Fragestellungen besonders durch einen Umstand aus, den man als die Übereinstimmung zwischen Form und Inhalt bezeichnen könnte: Für Nietzsche ist Wahrheit kein als Resultat feststellbarer, ein für alle Mal den Gedanken abschließender Satz. Die Wahrheit kommt nicht und nie zu einem objektiven, endgültigen Abschluss, sondern bleibt im Steigen begriffen. Dieses Steigen und fortwährende Übersteigen des eigenen Standpunkts wird motiviert und herausgefordert durch jenes Moment, das Paul Stephan unter dem Titel "Augenblick" zentral innerhalb seiner Arbeit herausarbeitet: Der ereignishafte Einbruch der Realität, der das bisherige Fürwahrhalten nachhaltig erschüttert. Es sind die Offenheit und Bereitschaft für die Erfahrung des Augenblicks einerseits sowie die Einsicht in die Fragilität jeder Wahrheitssetzung andererseits, für die Paul Stephan mit Nietzsche plädiert. Dieses Plädoyer vollzieht er als ein interessierter, "irgendwann einmal tief verwundet[er] und irgendwann einmal tief entzückt[er]" Leser, der sich in den Text und seine Dynamik hineinbegibt und dabei beständig selbst riskiert.

Nicht der neutrale, desinteressierte Wissenschaftler, sondern derjenige, der sich von dem Gesagten betroffen weiß, ist Nietzsche der rechte Leser für seine Schriften. Auf diese Weise lässt Stephan sich vermittels der Auslegung formal bereits auf jene Wahrheitsauffassung ein, die er für Nietzsche thematisch herauszustellen beabsichtigt.

Allein die Ausführungen am Ende des Textes über Nietzsches pragmatische Auffassung von Wahrheit, die "relativ, interessengeleitet und perspektivisch" sei, bleiben zu unvermittelt neben der Rede vom Augenblick stehen. Gegenüber der herausgestellten Unverfügbarkeit des Augenblicks behält die Zusammenfassung, Wahrheit sei eine "Konstruktion, die wir entwerfen, um Realität handhabbar zu machn" (174), etwas Befremdliches. Dennoch gelingt es Stephans Wiederholung von Nietzsches Wahrheitsbegriff über weite Strecken mehr zu sein als die Erinnerung an ein Vergangenes. Es ist der Versuch, das von Nietzsche Gesagte fortzuführen.

Helen Akin


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