Markus Enders (Hg.)

Christliche Bildung und Erziehung heute

Schriftenreihe der Bernhard-Welte-Gesellschaft e.V.

Jahrgang 2017

Rezension


I. In dem anzuzeigenden Bändchen werden die Hauptreferate der Jahrestagung 2016 der Bernhard-Weite-Gesellschaft veröffentlicht, einer Gesellschaft, die sich der "Idee einer humanen Bildung aus christlichem Geist" des Freiburger Philosophen und Theologen Bernhard Welte (1906 bis 1983) verpflichtet fühlt. "Trotz der immer größer werdenden zeitlichen Distanz zu seinem Leben und Denken" (S. 11) erscheint Weltes Beitrag zur christlichen Erziehung, wie Markus Enders in der Einleitung (Seiten 7 bis 15) betont, "aktueller und relevanter [...] denn je" (S. 11). Durch den rapiden gesellschaftlichen Wandel mit unübersehbaren Folgen für die familiäre und öffentliche Erziehung kommt es bei Eltern, Lehrern und Jugendlichen zu einem wachsenden "Orientierungsbedarf".

Darin liegt aber - so Enders (S. 9) - eine Chance für die christlichen Glaubensgemeinschaften, die "ein jahrhundertelang im Prinzip bewährtes Orientierungswissen" (Seiten 9 f.) anbieten, das in ihren Schulen, für die jeweilige Zeit "verständlich übersetzt", sich als verlässlich für den Dienst am jungen Menschen erwiesen hat.

Mit den Tagungsbeiträgen will sich die Weite-Gesellschaft den neuen Erziehungs- und Bildungsaufgaben stellen.

II. Für Holger Zaborowski ist die christliche Schule ein "Ort des Mensch- und Christwerdens" (Seiten 17 bis 26). Diese Metapher ist das. Leitmotiv für die Gestaltung des "Bildungsraumes", der die Identität einer christlichen Schule bestimmt. Dieses Modell von Schule steht im Kontrast zu zwei weiteren "Modellen", die Zaborowski in idealtypischer Konstruktion aus der "Vielfalt" christlicher Schulen herausarbeitet: Das erste "Modell", als liberal etikettiert (vergleiche S. 19), verweist auf eine Erscheinungsform von Schule, die sich vorab als "gute Schule" versteht und die durch Zusatzangebote in Schulpastoral oder Schulleben einen "christlichen Mehrwert" anzeigt, der sich auch auf die Reputation der Schule auswirkt. Beim zweiten, dem "konservativen Modell", zeigt sich die Identität der Schule "in einer vornehmlich äußerlich verstandenen Konformität" (S. 20) mit der christlichen Lehre.

Die letzteren "Modelle" mögen die einfache Deskription von Schulen erleichtern. Eine "heuristische Funktion" (Salzmann 1976), die zum erkennenden Nachvollzug oder zum Finden neuer Aspekte von christlicher Schule ermuntert, ist eher dem dritten Modell zuzuschreiben, das sich auf die Begriffe "Tugend" und "Charakter" stützt (vergleiche S. 21). Der Begriff der "praktischen Tugend" bezeichnet traditionell eine "Haltung", die Menschen einüben und sich zur Gewohnheit machen, wodurch sich das einstellt, was "Charakter" genannt wird, die Voraussetzung für moralisches Handeln. Tugenden gehören "zum gemeinsamer Erbe der Menschheit", für dessen Kenntnis und Eingewöhnung christliche Schulen einstehen sollten. In ihnen sollten die jungen Menschen nicht nur die "säkularen" Tugenden kennenlernen, sondern auch die "christlichen" Tugenden: Glaube, Hoffnung und Liebe.

Diese Orientierung an "Tugenden" bestimmt Inhalte und Methoden des Unterrichts ebenso wie das gesamte Schulleben. Dort, wo Christen sich bilden und anderen Menschen dabei helfen, sich zu bilden, entsteht das dritte Modell: der "christliche Bildungsraum", der dem Gedanken vom Menschen als dem Bild Gottes folgt. Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht hat man berechtigte Zweifel an dieser Modellkonstruktion, zumal historische Studien zu den Leitbegriffen "Tugend" und "Charakterbildung" in der Schul- und Unterrichtstheorie des neunzehnten/ zwanzigsten Jahrhunderts auf die Problematik einer "Normierung der Erziehung und Bildung" aufmerksam machen. Ähnliche Vorbehalte legt die historische Erfahrung mit der "Erziehung durch Vorbilder" nahe, wenn nicht die Grenzen der Planbarkeit der Erziehung und die Unverfügbarkeit des Menschen streng beachtet werden.

III. Mit dem Beitrag "Zur ‚Idee einer humanen Bildung aus christlichem Geist' im Ausgang von Bernhard Wehe" (Seiten 27 bis 40) entfaltet Ludwig Wenzler, Herausgeber von Weites "Gesammelten Schriften", die Gedanken Weites "zum Verständnis des Menschen". Er folgt einer biblischen Anthropologie: Der Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen. "Er ist sich gegeben" (S. 28), und zugleich ist er sich "aufgegeben", sich zu dem zu bilden, "als den Gott ihn gedacht hat". Diese Entfaltung hat dialogischen Charakter, das heißt den Charakter eines Gespräches, in dem der Mensch auf das hört, "was Gott ihm in seinem Innersten zuspricht" (S. 29). Nach Weite soll der Mensch, der sich nach dem Bilde Gottes gestaltet, dessen Universalität nachbilden.

Der Gedanke der Universalität als Leitidee für Bildung ist für Weite "keine realitätsferne Utopie" (S.32): Der Mensch besitzt mit seiner Seele ein "zur Universalität Gottes korrespondierendes Potential". Seine Entfaltung macht die Bildung des Menschen aus. Mit bloßem Fachwissen kann die Fähigkeit der umfassenden Schau auf die Schöpfung nicht erworben werden. Deshalb empfiehlt Weite, die "Dimension der Emotionalität" in das Bildungsgeschehen einzuholen (vergleiche Seite 34). Erst wenn sie den Bildungshorizont ergänzt und im Bereich des Lehrens und Lernens "gefühlte und erlebte" menschliche Beziehungen beteiligt sind, entwickelt sich "der Prozess der Bildung zu dem, was er sein soll" (S. 34): zum Sinn für das Bedeutungsvolle, "für das, was wirklich wichtig ist zu wissen und zu können". Gebildet ist demnach der Mensch, der "Sinn für den Sinn" hat. Ebenso entscheidend ist für Weite, das Leben zu lernen, im Kreis der Familie, der Freunde oder Schulgemeinschaft. Was hält Weite für das "Christliche" an seinen Überlegungen? "Der gebildete Christ" bewahrt seine Bildung nicht "narzisstisch" für sich, er verschenkt sie im Dienst am Mitmenschen!

Auch wenn der Autor seinen Lesern empfiehlt, die mit dem Text verbundenen "Implikationen und Konsequenzen" selbst herauszufinden (vergleiche S. 28), so hätte man doch gerne einige Auskünfte erhalten, zum Beispiel Antworten auf die Fragen, weiche Bedeutung Weites Bildungstheorie im aktuellen Diskurs über diesen pädagogischen Grundbegriff beansprucht und ob sie neue "Spielräume für die Suche nach angemessenen Weisen des Denkens, Redens und Handelns" (U. Frost) im Bildungsbereich eröffnen kann.

IV. Im dritten Beitrag referiert Susanne Orth über "Aufgaben und Herausforderungen katholischer Schulen heute" (Seiten 41 bis 59). Orth geht von Thomas Södings These aus, dass das Christentum eine "Bildungsreligion" ist, in der die Bildungsfrage eng mit der Gottesfrage verknüpft ist. "Gebildet ist, wer das richtige Vorbild gefunden hat" (S. 41). Für Christen ist das Vorbild Jesus Christus selbst. Er ist das Ebenbild Gottes, und nach jüdisch-christlichem Verständnis ist der Mensch Abbild Gottes. Mit einer solchen Würde ausgestattet, hat der Christ ein Recht auf Bildung, das die Kirche einlösen muss. Um christliche Bildung näher zu kennzeichnen, greift Orth auf die konziliare Erklärung über die christliche Erziehung (1965) "Gravissimum educationis" (GE) zurück und zitiert einige der Kernaussagen:
"Gravissimum educationis" billigt allen Menschen "kraft ihrer Personenwürde" das Recht auf Erziehung zu. Sie erstrebt die Bildung der Person, die Entfaltung ihrer körperlichen, sittlichen und geistigen Anlagen. Dieses Recht wird für Christen durch das Recht auf christliche Erziehung überhöht: Personenwerdung wird mit der Christwerdung verschränkt, indem eine wechselseitige Durchdringung von Glaube und Leben beziehungsweise Glaube und Kultur intendiert wird.

Orth zitiert auffallend knapp aus dem konziliaren Dokument, das in Deutschland ausgiebig als "grundlegende Richtlinie", zur christlichen Erziehung und zur Katholischen Schule interpretiert und genutzt wurde (vergleiche zum Beispiel Frick 2006). Sie nutzt den Text, um unter anderem an konkrete Aufgaben der Katholischen Schule, zum Beispiel die Sorge um Schulabbrecher und um die Integration von Flüchtlingen, zu erinnern und Bildung in dieser Spur "als nachhaltigste Form der Nächstenliebe" (S. 46) zu interpretieren. Um das Bildungsverständnis, das Katholische Schule prägt, zu differenzieren, paraphrasiert Orth die "Sieben Thesen zum Selbstverständnis und Auftrag Katholischer Schule", die die Deutsche Bischofskonferenz 2016 veröffentlichte.

Die Thesen, deren Aufbau keiner erkennbaren Logik folgt, stellen unter anderem einen Kriterienkatalog bereit, dem eine als katholisch qualifizierte Schule entsprechen sollte. Sie werden von Orth vorgestellt. So zum Beispiel die Kernaussage:. Katholische Schule ist ein "Lern- und Lebensraum", in dem der Geist des Evangeliums lebendig ist und. junge Menschen mit Gott und der Glaubensgemeinschaft in Berührung kommen können. Neben Qualitätsmerkmalen für die Katholische Schule fassen die Thesen auch Kompetenzen zusammen, die junge Menschen erwerben sollen:
So soll zum Beispiel Katholische Schule angesichts "der Pluralität und Unübersichtlichkeit" der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation Schüler zu ethischer Reflexion befähigen und sie zur Entwicklung einer werteorientierten Haltung und zu verantwortlicher Weltgestaltung (vergleiche S. 51) ermuntern. Die kritische Frage, ob und wie sich diese Zielvorstellungen der Thesen auf den Alltag von Katholischer Schule auswirken, wird nicht gestellt, geschweige denn beantwortet.

Mit der Erinnerung an Södings These von der "Bildungsreligion" schließt Orth den argumentativen Kreis: Sie ordnet die Katholische Schule, die in Deutschland mit über neunhundert allgemeinbildenden Schulen ein Zeichen für Toleranz, Vielfalt und Demokratisierung im Bildungswesen setzt, in das "kirchliche Bildungshandeln" ein (vergleiche Seite 54 ff.). Der Kirche wird in der Öffentlichkeit eine hohe Kompetenz in Fragen der Bildung und Erziehung zugesprochen. Ihre Schulen genießen derzeit - trotz der Perversion des Erziehungsauftrages durch die Missbrauchsfälle - eine breite gesellschaftliche Akzeptanz und eine auffallende Attraktivität, wobei allerdings die Probleme der Personalgewinnung für die Katholische Schule, die Finanzierung oder Anforderungen der Inklusion unter anderem gegenwärtig die pädagogischen Bemühungen an Katholischer Schule erschweren.

V. Die drei Beiträge demonstrieren, wenn auch in Anspruch, Sprache und Argumentation nicht gleichförmig, zum einen, dass das Interesse an christlichen Schulen und ihrem Spezifikum in Erziehung und Bildung noch nicht erloschen ist, und sie belegen zum anderen, dass dieser Disput um die christliche Schule im Rückgriff auf unterschiedliche Traditionen und Quellen, Theorien und reflektierte Erfahrungen an Aspekten und Einsichten gewinnt. Sehr karg sind dagegen die in dem Bändchen angebotenen Auskünfte, ob und wie christlichen Schulen in Deutschland angesichts der engen Allianz mit der Staatsschule in Fragen der Schulabschlüsse, der Lehrpläne, der Inklusion oder Schulentwicklung eine glaubwürdige Profilierung im Rekurs auf die christliche Botschaft in einer Gesellschaft, die an kirchlicher Religiosität und Bindung desinteressiert ist, weiterhin gelingt (vergleiche Wittenbruch 2013).

Wilhelm Wittenbruch


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