Hans-Christian G(ünther) hat mit dem hier rezensierten Band eine Nachdichtung mit
ausführlicher Einleitung und knappem Kommentar zu Ausonius' kleinem Gedichtzyklus Bissula sowie zum anonymen Gedicht Pervigilium Veneris vorgelegt, mit dem er sich an "ein möglichst breites Publikum" wendet, um es "an diese so außergewöhnliche Dichtung heranzuführen". Die Zusammenstellung dieser beiden Werke mag auf den ersten Blick willkürlich
erscheinen. G. begründet seine Auswahl im Vorwort damit, dass es sich um "zwei
höchst reizvolle und dabei ungeheuer eigenartige Liebesgedichte aus dieser Endzeit
der lateinischen Antike" handle, die beide "zurück- und vorausblicken" und so
"- gerade auch in ihrer Unscheinbarkeit - noch einmal die große Liebesdichtung der
augusteischen Klassik" destillieren und "sich zugleich auf ein Neues hin" öffnen,
weshalb sie "auch über den Kreis der klassischen Philologie das Interesse jedes an
europäischer Literatur Interessierten verdienen". Später arbeitet er den Zusammenhang zwischen Pervigilium Veneris und Bissula stärker heraus, indem er sie kontrastierend gegenüberstellt. Dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass die
beiden Gedichte in diesem Band weitestgehend unverbunden nebeneinander stehen, da ein detaillierterer Vergleich ausbleibt. Im Vorwort gibt G. einen Überblick über die lateinische Literatur und Kultur des 4. Jh. n. Chr. als "letzte[n] Höhepunkt der lateinischen Kultur des weströmischen Reiches vor seiner Zerschlagung" und ordnet Ausonius neben Prudentius und Claudian unter "die drei großen Dichtergenies des Jahrhunderts" ein. Die Einleitung gliedert sich in eine Einführung zur Bissula des Ausonius und eine zum Pervigilium Veneris. Nach einem Verweis auf die reiche Forschung zur lateinischen Dichtung der Spätantike geht G. kurz auf die Forschungsliteratur
zu Ausonius ein, um deutlich zu machen, dass er selbst keine wissenschaftliche
Kommentierung anstrebe. Ausgehend von spärlichen biographischen
Hintergrundinformationen zu Ausonius und seiner Teilnahme an der Kampagne
Valentinians II. gegen die Alemannen und Burgunder, bei der er die germanische
Sklavin Bissula als Kriegsbeute gewonnen und sich in sie verliebt hatte, gibt G. einen
Überblick über Struktur, Inhalt und Metrik des Bissula-Zyklus. Er beleuchtet die Wirkung des Sklavenmädchens auf Ausonius und interpretiert den Gedichtzyklus als "das ganz persönliche Bekenntnis eines älteren, verwitweten hohen römischen Beamten über eine recht ungewöhnliche sentimentale Beziehung mit einem blutjungen germanischen Sklavenmädchen" und erläutert literarische Parallelen
zu diesem Motiv der Beziehung zwischen altem Mann und jungem Mädchen. Zu Beginn der Einleitung zum Pervigilium Veneris hebt G. dessen Besonderheit
als "Verbindung des Preises der Liebe als kosmische Schöpferkraft à la Lukrez mit
persönlicher Liebe" im Kontrast zur sonstigen antiken Liebesdichtung hervor, gibt einen Überblick über die Rezeption des Gedichts und weist auf moderne Ausgaben und Kommentare dazu hin. Intensiv widmet er sich der Frage nach der Datierung des Gedichts. G. bietet einen ausführlichen Überblick über dessen Thema, Inhalt und Struktur sowie eine detaillierte Interpretation, die in die kurze Gegenüberstellung mit dem Bissula-Zyklus mündet. Der lateinische Text der Bissula scheint das Ergebnis eigener Arbeit zu sein - zumindest gibt G. nicht an, welche Ausgabe er zugrunde legt und inwiefern er davon
abweicht. Auch die stellenweise Darbietung von textkritischen Anmerkungen deutet
darauf hin. Der lateinische Text des Pervigilium Veneris ist wohl auf Grundlage der
Ausgaben von Catlow und Formicola erstellt. Die textkritischen Anmerkungen sind
hier etwas zahlreicher als zum Bissula-Zyklus.
Der knappe textkritische Apparat unter dem Text der Bissula und des Pervigilium
Veneris ist kaum von Nutzen, da G. nirgends auf die Textüberlieferung und die
Editionsgeschichte der Gedichte eingeht. Für den intendierten Leser, "ein möglichst
breites Publikum", dürften schon die - nirgendwo aufgelösten und übersetzten -
lateinischen Abkürzungen problematisch sein, selbst dem Klassischen Philologen
nutzt der Apparat wenig, da die Editionen, Konjekturen und Korrekturen, auf die
dort verwiesen wird, weder in der Bibliographie am Ende des Buches noch sonst irgendwo aufgeführt werden.
Die von G. dargebotenen Übersetzungen bzw. Nachdichtungen der beiden Gedichte
in deutschen Versen sind sehr ansprechend und gelungen. Die Anmerkungen zum
Bissula-Zyklus und zum Pervigilium Veneris enthalten einige knappe Sachinformationen, vor allem zu historischen und literaturhistorischen Hintergründen, daneben thematische und motivische Hinweise. Dass die Bibliographie sehr selektiv ist und die Angabe der Sekundärliteratur zum Zyklus Bissula sich auf einen Aufsatz von Dräger beschränkt und für das Pervigilium Veneris auf einen Aufsatz von Cameron, ist sicher für das breite Publikum zu verschmerzen. Dass aber auch Hinweise auf textkritische Ausgaben und Kommentare der Gedichte des Ausonius4 völlig fehlen, während sie zum Pervigilium
Veneris teilweise existieren, ist kaum verständlich. Der Fachkollege benötigt diese
Hinweise wohl nicht, der interessierte Laie, dem die Gedichte erschlossen werden
sollen, hätte davon sicher profitiert. Einige fehlerhafte Siglen kommen offenbar durch
Übernahme aus anderen Bibliographien zustande. Insgesamt bietet G. dem Leser einen guten Überblick über Ausonius' Bissula-Zyklus
und das Pervigilium Veneris. Seine flüssige Nachdichtung vermag es, die Wirkung
dieser Gedichte auch dem deutschen Leser nahezubringen. So sind denn die
Einleitung und die Übersetzung durchaus geeignet, "ein möglichst breites Publikum
an diese so außergewöhnliche Dichtung heranzuführen". Für dieses Publikum
sind die knappen Anmerkungen sicher auch ausreichend. Die fehlenden Hinweise zur Textkonstitution, die fehlende Diskussion der Vor- und Nachteile einer dichterischen Übersetzung und die fehlenden bzw. unvollständigen Literaturangaben sind für diesen Leserkreis sicher zu verschmerzen. Angesichts der vom Autor formulierten Zielstellung, nach der "weder Einleitung
noch Kommentar […] einen wissenschaftlichen Anspruch [erheben]", darf man
wohl keine allzu strengen wissenschaftlichen und methodischen Maßstäbe anlegen,
doch hätte dem Buch ein Lektorat sehr gut getan. Magnus Frisch, Marburg
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