Hans-Christian Günther

Zwei Liebesgedichte vom Ausgang der lateinischen Antike

Ausonius' Bissula und das Pervigilium Veneris

Studia Classica et Mediaevalia, Band 15

Rezension


In einem ganz ähnlich konzipierten Bändchen wie "Sulpiciae elegidia" werden Ausgaben des kleinen Gedichtzyklus "Bissula" von Ausonius über ein junges germanisches Mädchen und des (unsicher datierten) "Pervigilium Veneris" vereinigt.

In der "Bissula" vermisst man die textliche Sorgfalt, die eigentlich selbstverständlich sein sollte, zumal wenn man ein so kleines Korpus ediert: In dem einleitenden Prosabrief ist die Anrede "Paule" vor "carissime" ausgefallen, ebenso eine syntaktisch erforderliche Präposition "(quantum tibi me iuris esset)". In der Einleitung (S. 20 "ad domesticum" [richtig "domesticae] solacium cantilenae") findet sich noch eine weitere Korruptel zum Einleitungsbrief.

Kritisches: Eher als mit Scaliger "et" zu tilgen ("cum [sc. poematia] sine metu [et] arcana securitate fruerentur"; Prete tilgt die drei Worte "sine metu et") sollte man mit vielen Herausgebern einen Wortausfall vor "et" annehmen ("laterent"Peiper), am einfachsten "sine metu essent et" ("essent" als "eet" mit doppeltem Abbreviaturstrich geschrieben und dann vor et quasi-haplographisch ausgefallen?).

Die Übersetzung betreffend: "caligantia" in der Fügung "proferre ad lucem caligantia (sc. poematia) coegisti" heißt nicht "aus dem Dunkel" sondern "schwindlig werdend" (in Bezug auf die das plötzliche Licht nicht gewohnten Gedichtchen).

In Stück 1 wird V. 1 metrisch entstellt durch den erneuten Ausfall von "Paule" hinter "voluisti" (übrigens erhielte man, wenn man hier "voluisti" durch "petisti" ersetzte, in dem ganzen Stück durchgehend korrekte trochäische Tetrameter); dann ist noch "Bissulae" metrikwidrig in "Bisullae" verschrieben.

In V. 2 fehlt das metrisch wie syntaktisch erforderte "in" vor "Suebae gratiam".

Stück 2, V. 1: "lecture" statt des Druckfehlers "lectura" zu lesen.
V. 4 "Nos Thymelen sequimur" übersetzt mit "Thymele ist's, der uns führt", obwohl Thymele laut Kommentar (S. 82) eine "Tänzerin" ist.
V. 9: Die bedenkliche Verbalfolge "si dormiet et putet" (Heinsius "ut" für "et"; Green hier "dormiat" und in der Protasis "sapiat") würde ich in Übereinstimmung mit dem Futur II in V. 8f. ("si quis / Legerit") folgendermaßen korrigieren:

"Sed magis hic sapiet, si dormierit (dormiet et codd.): putet ista
Somnia missa sibi."

Stück 3, V. 5: "erile" im Zusammenhang der gewählten Textrekonstruktion mit "(k)eines Herrn" statt "(k)einer Herrin" wiederzugeben.
V. 6: "ipsa" in "ispa" verschrieben.
Stück 5, V. 6: "Quique erit ex illis (sc. rosis et liliis) color aeris, ipse sit oris". "Farbe der Luft" bleibt mir dunkel. "aemulus" (abbreviiert "aemls'") statt "aeris", so dass "aemulus ipse sit oris" zu verbinden wäre? Der Begriff wird in V. 2 des folgenden Stücks aufgegriffen.

Das "Pervigilium Veneris" ist zum Glück weniger von Druckfehlern verwüstet; dennoch ist in V. 67 "mundumque statt mundum" (als Influenzfehler aus vorausgehendem "iussitque") in den Text geraten.
V. 9: Statt "Pontus lies pontus"; Venus ist nicht im Schwarzen Meer entstanden.

V. 53f. Inwiefern "fontium/ … montes" (Sannazarius) gegenüber "montium/ … fontes" (Scriverius) überlegen sein soll (Kommentar, S. 89), sieht man nicht leicht. In jedem Fall muss das überlieferte "montium / … montes" abgeändert werden, damit die Bergnymphen nicht doppelt erwähnt werden. Normalerweise wirkt ein Influenzfehler nach unten, und "fontes" ist als Objekt zu "incolunt" keineswegs unpassend, wie Günther meint. Als Beleg dafür, dass Wassernymphen als in der Quelle lebend gedacht werden, genügt der Hylas-Mythos.
V. 74: Überliefert ist nicht "patrem" (wie nach Günthers Apparat), sondern "matrem". Hier mag man in der Tat die von Günther aufgenommene und auf Scaliger zurückgeführte Konjektur ("mater") erwägen; dann würde Venus prädikativ in hyperbolischer Form als "Romuli mater" bezeichnet (in welcher Rolle sie gut neben seinem - leiblichen -Vater Mars stünde); damit würde das dreimal wiederholte "ipsa" (69. 70. 72), welches die Verdienste der Venus um die Römer hervorhebt, zu einer weiteren Pointe übersteigert. Shackleton Bailey geht in seiner Ausgabe der "Anthologia Latina" (Nr. 191) mit Camerons Konjektur "Romuli parem" (zu "nepotem Caesarem") einen ganz anderen Weg. Weiter problematisch ist "proque prole posterum" im vorigen Vers, was Günther mit SB zu "atque prolem p." abändert; denkbar wäre auch "cumque prole p." (dann "proque" Antizipationsfehler), so dass "et" vor "nepotem Caesarem" "auch" hieße.

Das Metrum des "Pervigilium Veneris" gibt Anlass zu weitergehenden Überlegungen: Bis auf relativ wenige Ausnahmen (vgl. die Sonderausgabe des "Pervigilium Veneris" von L. Catlow, Brüssel 1980, S. 36) handelt es sich um korrekt gebaute trochäische Tetrameter; von den Ausnahmen kommt eine durch eine sehr plausible Konjektur des Pithoeus zustande (V. 35 in "armis" statt "inermis"), eine andere könnte man leicht durch eine Konjektur desselben Gelehrten beseitigen (V. 60 "vernus" statt "vernis"). Grundsätzlich wird auf Verschleifungen verzichtet - mit Ausnahme ausgerechnet des Refrainverses, der gleich zwei Elisionen enthält (der Refrainvers also anderer Provenienz?).

Vielleicht hätte es sich in dem Bändchen in Anbetracht der Zielsetzung Günthers eher empfohlen, sich an eine etablierte Textausgabe anzuschließen (dann möglichst ohne Übertragungsfehler).

Thomas Gärtner - Köln


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