Ellen Wilmes

Was heißt "menschlich sein"?

Antworten im Anschluss an die Lebensphänomenologie von Michel Henry

libri virides Band 20

Rezension


Die Zusammenführung der Frage nach dem "menschlich sein" in der besonderen Schreibweise der Autorin mit dem Denken des französischen Philosophen Michel Henry (1902-2002) deutet schon darauf hin, dass die Anthropologie radikal phänomenologisch gegründet werden soll. Man wird daher dieser Arbeit in ihrem Aufweis einer transzendentalen Ipseität als Kern unseres Menschseins nur dann gerecht, falls die "Gegen-Reduktion" mitvollzogen wird, welche die Autorin im 2. Kapitel in entsprechender methodologischer Kenntnis der Reduktionsproblematik innerhalb der Phänomenologie seit Husserl sachlich angemessen durchführt (17-24). Die besonders zu würdigende Innovation der vorliegenden Untersuchung von insgesamt 145 Seiten besteht deshalb darin, dass sie die anthropologische Fragestellung in der bisherigen Philosophie nicht ausblendet, aber eben transzendental auf ein Selbsterscheinen des Ego als rein immanenter Subjektivität im Sinne einer unmittelbaren Lebensselbstaffizierung oder "Lebensoffenbarung" zuspitzen kann (18 ff..)

Daraus ergeben sich konsequent die weiteren Schritte einer rein material phänomenologischen Bestimmung dieser immanenten Ipseisierung in der Nachfolge des Denkens Michel Henrys, nämlich die inkarnatorische Analyse desselben als ursprüngliche Sinnlichkeit oder Leiblichkeit (Kapitel 3). Innerhalb dieser transzendentalen Konkretheit des Ich als "Mich" (moi) im Sinne ursprünglicher Passibilität oder Lebensrezeptivität ist jedem Individuum ein originäres "Lebenswissen" mitgegeben, welches als umfassende "Potenzialität" das eigentliche "menschlich sein" im Sinne der Autorin bildet (28ff. u. 38ff.). Die näherhin hierzu weitergeführte material phänomenologische Untersuchung entfaltet die Struktur der originären Leiblichkeit als notwendige Differenzierung von Fleisch (chair), intentional-subjektivem Leib und sichtbarem Körper (corps) in der Welt, ohne die pathische Einheit dieser integralen Leibwirklichkeit als Erscheinensgrundlage allen Seins zu vergessen. In der originellen eigenen Formulierung, "menschlich sein" sei "mit Fleisch aufwachen" (52ff.), will Ellen Wilmes aussagen, dass Heil- oder Ganzsein des Menschen im umfassenden Sinne ein Leben aus dem zuvor genannten ursprünglichen Lebenswissen heraus ist. In diesem 4. Kapitel ergeben sich deshalb dann auch beispielhafte Konkretionen zur Psychosomatik und Psychotherapie etwa (55f.), welche die Vulnerabilität solcher leiblichen Affektivität unterstreichen wollen, wodurch bereits auch ein Vorgriff auf die "Utopie" eines Menschseins rein aus dem Lebenslogos heraus für den Schussteil antizipiert wird (vgl. Kapitel 8).

Wurde in diesen ersten Kapiteln 2-4 die Ipseität aus dem Blickwinkel des Ego dargestellt, so bilden die Kapitel 5-6 vor allem die zusätzlich notwendige, rein phänomenologische Analyse zum Verhältnis von Ipseität und absolut phänomenologischem Leben. Das heißt, es wird die Ursprungsfrage oder Problematik eines "Ur-Grunds" als Selbsterscheinen des Erscheinens aus der Perspektive des originären Lebens her erörtert, welches das subjektive "Ich kann" der Potenzialität mit dem Logos oder "Wort des Lebens" als "Ur-Intelligibilität" zusammenfallen lässt (87ff.), Um aber natürlich auch die Folgen eines solchen radikal phänomenologischen Verständnisses des Menschen allein aus dem Leben heraus für unsere intentionale Weltbezüglichkeit als Vorstellung und Praxis aufzuzeigen, ergibt sich im Kapitel 7 eine Weltbestimmung als Horizont und "Außer-sich" bzw. Zeitlichkeit wie auch schon bei Husserl und Heidegger, die von Henry allerdings kritisch weitergeführt werden. In einer solchen Welt der reinen Außenheit, Differenz oder Andersheit, das heißt ständiger Sinn-Weiterverweisungen, kann das transzendentale Leben des Menschen leicht verkannt oder sogar ganz vergessen werden, wie es die klassisch metaphysische und postmoderne Tradition zeigt. Aber die Fundierung von Welt und Mensch in dem erwähnten absolut phänomenologischen Leben ist letztlich nicht möglich, ohne dieses Vergessen des Lebens zu hinterschreiten (76ff.), was die Autorin ebenfalls wiederum mit eigens dafür ausgewählten Beispielen für die Diskussion zum Zusammenhang von Leben und Ratio unternimmt (104 ff.).

Im Schlusskapitel 8 über eine "Utopie" möglicher Weiterentwicklung unseres ausschließlich wissenschaftlich-technischen Bewusstseins entwirft Frau Wilmes die Möglichkeit einer "pathischen Ratio", welche die bisherigen epistemologischen und philosophischen Fortschritte in der Vergangenheit nicht verkennt (117 ff.), aber tiefer und erneuert von der. "Ungetrenntheit" mit dem Leben her fundiert (122 ff.). Der daraus sich nach ihr ergebende "lebendige Transzendentalismus" soll eine anhaltende Entwicklung ermöglichen, in der Subjektivität und Gemeinschaftlichkeit zur Entfaltung der jeweiligen individuellen Potenzialitäten führen (125 ff.). Die Schlussbetrachtung macht darüber hinaus deutlich, dass diese kürzere Arbeit bewusst in der Perspektive der ersten Person erfolgt ist, um eine "Selbstrealisierung der Subjektivität" darzustellen, welche gerade auch mit dem eigenen Weg zusammenfällt, wie er durch Meditation und entsprechende Praxis gekennzeichnet ist.

Liest man diese Analyse als eine Art erste Hinführung in das Denken Henrys, so darf derselben bescheinigt werden, dass die Autorin in äußerst komplexe Zusammenhänge gerade der radikalen Lebensphänomenologie eingearbeitet ist und dieselben sachlich angemessen darstellt. Die Berücksichtigung der internationalen Sekundärliteratur hätte breiter sein können, um auch kritische Kommentatoren mehr zu Wort kommen zu lassen, was aber die immanente Sachgemäßheit der Gesamtuntersuchung nicht beeinträchtigt. Positiv bleibt in formaler Hinsicht auch das Person- und Sachregister am Ende der Arbeit hervorzuheben (137-143). Angesichts des vorliegenden Ergebnisses dieser Arbeit, die einen neuen Blick auf die anthropologische Philosophie eröffnet, darf man dieses Buch allen empfehlen, die sich einen ersten Überblick über das Denken Henrys verschaffen möchten.

Rolf Kühn, Freiburg i. Breisgau


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