Richard Ball

Wilhelm der Letzte

Bilanz über 25 Jahre Regierungszeit Wilhelms II.

hrsg. von Nathalie Chamba und Eberhard Demm

Rezension


Im Kontext des hundertsten Jahrestages der Novemberrevolution von 1918 ist das Ende der Monarchie zumeist im Schatten des Endes des Weltkrieges und der teilweisen Neubewertung der Novemberrevolution geblieben. Die Neuveröffentlichung und Edition der weitgehend vergessenen Schrift von Richard Ball' Wilhelm der Letzte. Bilanz über 25 Jahre Regierungszeit Wilhelms II.' ändert wenig an diesem Befund und die Veröffentlichung intendiert dies auch gar nicht. Gleichwohl handelt es sich um eine relevante Publikation aus einem Genre, das ansonsten oft im Obskuren bleibt.

Es handelt sich um eine erstmals 1909 auf Deutsch und Französisch erschienene pamphletartige Abrechnung mit der wilhelminischen Politik und Gesellschaft des ehemaligen Diplomaten Richard Ball. Der Text erschien in zwei weiteren, offenbar deutlich stärker beachteten Ausgaben 1912 in der Schweiz und zudem in einer durch Ball eigenes herausgegebenen Zeitung. Die Verbreitung in Deutschland wurde schließlich über den Majestätsbeleidigungsparagraphen gestoppt, bevor das Werk dann 1919 erneut in - zumindest nach offiziellen Angaben - beträchtlicher Auflage erschien.

Was rechtfertigt die Neuausgabe und umfangreiche Kommentierung einer weitgehend vergessen Schrift? Aufmerksamkeit könnte der auf den ersten Blick prophetische Charakter des Textes beanspruchen. Balls Abrechnung mit der Regierungszeit Wilhelms II. endet in der Prognose, dass dessen Regierung in einem Weltkrieg münden werde und dieser wiederum in einer deutschen Niederlage und dem Ende der Monarchie. Ball war nicht der einzige, der diese Prognose vor 1914 stellte und in dem erratischen Regiment Wilhelms II. ein Risiko sowohl für den europäischen Frieden als auch den Bestand der Monarchie erkannte bzw. sah, dass die Monarchie sich so diskreditiert hatte, dass diese einen verlorenen Krieg nicht würde überleben können. Aber in dieser Ausführlichkeit und Konkretion steht dem Text wenig an der Seite. Was die vorliegende Edition relevant macht, sind aber vielmehr drei Spezifika: Ball war, wiewohl mit untypischen Hintergrund und in eher subalterner Stellung, Mitglied des deutschen diplomatischen Dienstes und hatte an verschiedenen Botschaften und Gesandtschaften gearbeitet. Seine Karriere hatten diverse Prozesse gegen höhere Autoritäten ruiniert, wobei undeutlich bleibt, ob dies, wie Ball behauptete, daran lag, dass er vermeintliche Veruntreuungen aufgedeckt hatte, oder weil er sich nicht ausreichend gewürdigt fühlte und sich in eine schließlich außer Kontrolle geratene Vendetta gegen verschiedene Reichsbehörden hineinsteigerte. Zweitens liefert Balls Schrift einen Detailreichtum und hier und da auch Insiderkenntnisse, die viele ähnlich gelagerte pamphletartige Schriften der Zeit vermissen lassen. Diese Details, und dies ist nicht Ball, sondern den Editoren zu danken, werden drittens umfangreich durch eine Einleitung und zahlreiche, teils aufwendig recherchierte, Anmerkungen erschlossen und damit der Text entschlüsselbar gemacht.

Wir lernen wenig Neues über Ereignisse an sich, über die man sich nicht auch andernorts informieren könnte, wiewohl viele der kleineren Affären, auf die Ball eingeht vergessen sind. Wichtig ist vielmehr die Zusammenschau verschiedenster Themen und der wutbürgerliche "Sound", der uns hier entgegentritt und der durchaus eine wichtige Strömung zunehmend frustrierter Gruppen im Wilhelminismus reflektiert. Ball bietet gewissermaßen das Kondensat der populären Kritik an Wilhelm II. und mit ihm verbundener und assoziierter Fehlentwicklungen im Kaiserreich, wie sie sich spätestens seit 1905 und nach einigen spektakulären außenpolitischen Fehlschlägen und innenpolitischen Skandalen etablierte.

Was eine Schwäche ist, nämlich dass Ball seine Elogen großenteils ungefiltert, sprachlich mitunter krude und widersprüchlich darbietet, veranschaulicht, wie sich linke und rechte Kritikansätze vereinen konnten - wie wir dies etwa aus den von Richard Evans überlieferten Hamburger Kneipengesprächen kennen.[1] Ball arbeitet gewissenhaft die Großthemen der wilhelminischen Öffentlichkeit im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg ab - aufgefasst als großer Skandal in verschiedensten Facetten. Es geht um Missstände im Heer und in der Kolonialpolitik, Bürokratie und Justiz, Kritik am Irrenhauswesen, das Drei-Klassen-Wahlrecht, die von Ball attackierte Germanisierungspolitik, den - u.a. auch als zu polenfreundlich verdammten - Adel und die wilhelminische Weltpolitik (mit deren Grundannahmen Ball durchaus eins ist).

Dies alles wird kaum durch einen roten Faden bzw. eine politische Ideologie zusammengehalten, sondern vor allem - und auch hierin steht Ball für eine Gattung - durch den Fokus auf Wilhelm II. Ball behauptet (in der Fassung von 1912), einen Gegenpol bieten zu wollen zu den hagiographischen Bilanzschriften zum 25. Regierungsjubiläum, aber er reiht sich damit ein in eine bereits wohletablierte Kaiserkritik. Wie bei andere Autoren auch ging diese einher mit einem teils grotesken Überzeichnen des Einflusses Wilhelms II. auf auch noch die minimalste Entscheidung im Reich. Der Kaiser steuere die öffentliche Meinung und sei - auch dies durchaus nicht widerspruchsfrei - vollkommen in den Händen einer Hofkamarilla, die ihn wiederum von dem, was das Volk wirklich denke, abschirme. Spätestens seit dem Eulenburg-Skandal der Jahre 1906-1909 war diese Annahme ein dominanter Topos in der Öffentlichkeit des Kaiserreichs.

Der Fokus auf den Kaiser, so müssen wir annehmen, sicherte aber eben auch und vor allem Aufmerksamkeit für Ball und hatte insofern auch ökonomische Gründe. Pamphlete, die sich auf Wilhelm II. bezogen und damit einen ganzen Kosmos wohletablierter Assoziationsketten - wie eben die tatsächlich oder vermeintliche Kamarilla - abrufen konnten, das hatten die Jahre vor Balls Publikation Jahren zuvor gezeigt, operierten in einem einträglichen Markt. Hierzu hätten die Herausgeber in ihrer ansonsten informativen Einleitung sicher noch mehr sagen können: Wie gehörte Balls Schrift inhaltlich, aber auch als Publikationsform in ein Genre, das auch Außenseitern relativ barrierefrei den Zugang zur Öffentlichen Meinung bot - und über die Kommissionspublikation auch wirtschaftliche Vorteile? Und wie verhielt sich Ball zu den zahlreichen anderen den Wilhelminismus kritisierenden Schriften die von der Schweiz aus die deutsche Zensur umgingen?

In typischer Pose inszeniert sich Ball als aufrechter Mann des offenen Wortes in einer Welt der Angepassten und als authentischer Erzähler, der die geschilderten systematischen Missstände des Reiches selbst erfahren habe bzw. Einblicke "in die zuständigen Kreise" gehabt habe, ohne doch Teil von diesen geworden zu sein. Ball sieht sich als Sprachrohr der Meritokratie gegen etalierte Privilegien überlebter Kasten. Literarisch und inhaltlich gibt es sicherlich stärkere Abrechnungen mit dem Wilhelminismus.[2] Aber es spricht eben auch einiges dafür, dass das Genre, für das Ball ein wichtiges Beispiel ist, durchaus sehr wirkmächtig war. Das Verdienst und der Nutzen der Edition liegen darin, dass diese einen kleinen Ausschnitt einer reichhaltigen und schwierigen Textgattung erschließt. Die Schrift Balls ist denn auch eher als Indikator denn als solche wichtig. Als Indikator zeigt der Text die Bruchstellen des Kaiserreiches zwischen Moderne und Tradition, zwischen Meritokratie und traditionell Privilegierten, zwischen ökonomischen Profiteuren und Ausgebeuteten auf, reflektiert aber gleichzeitig die extrem dynamische und kritische öffentliche Diskussion im Kaiserreich. In diesem Sinne ist der Band auch ein Beitrag zur jahrzehntealten Debatte um die Platzierung des Kaiserreichs zwischen den Polen Demokratie und Autoritarismus.

Martin Kohlrausch, Faculteit Letteren - MoSa, KU Leuven


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