Richard Ball

Wilhelm der Letzte

Bilanz über 25 Jahre Regierungszeit Wilhelms II.

hrsg. von Nathalie Chamba und Eberhard Demm

Rezension


Es ist eine endlose, selbst geduldige Leser ermüdende Litanei, zusammengerührt aus Wahrheit und Halbwahrheit, Verdächtigung und Übertreibung: ein Pamphlet aus der unmittelbaren Vorkriegszeit, das den letzten deutschen Kaiser treffen und delegitimieren sollte. Seine Mixtur speist sich aus persönlichen Motiven, radikaler Polemik und uferloser Kritik an den absolutistischen Ambitionen Wilhelms II., was als "persönliches Regiment" daherkam und sich aus einem überhöhten, längst nicht mehr zeitgemäßen Verständnis von Gottesgnadentum ableitete. Für den Autor Richard Ball war das Deutsche Reich ein "durch parlamentarisches Schnörkelwerk notdürftig verbrämter Despotismus" mit einem Monarchen an der Spitze, der überall und immer für sich das letzte, autoritative Wort reklamiere. Niemand wage es, dagegen aufzutreten, das politische System sei dadurch gründlich deformiert worden. In "Offiziers-, Beamten-, Gelehrten-" und "Künstlerkreisen" dominierten Speichellecker, allenthalben regierten Günstlingswirtschaft, Byzantinismus und Größenwahn. Die Kanzler Bülow und Bethmann Hollweg seien herabgesunken zu "willenlosen Werkzeugen", Preußen gebe den Ton an, "seine Staats- und Regierungspolitik" schwebe seit Jahren "wie eine dunkle Wolke" über den anderen Bundesstaaten und degradiere sie zu blinden Erfüllungsgehilfen der Berliner Ämter und Ministerien. Der preußische Staat, gegründet auf die Allmacht der Bürokratie, einen gewaltigen Militär- und Polizeiapparat und den dadurch beförderten "knechtischen Willen des Volkes", unterdrücke "Individualität und Menschenrechte", sei ein Gewaltgebilde reinsten Wassers.

Die Gedankenführung der Broschüre ist nicht eben stringent, manches wiederholt sich, nicht alles passt zu den Kapitelüberschriften, ein Skandal reiht sich an den nächsten. Nicht dass die Eliten des Kaiserreichs frei gewesen wären von Verfehlungen jedweder Art, aber für alles und jedes den Kaiser verantwortlich zu machen, ist wenig überzeugend, zumal die Argumentation in diesem Punkt nicht frei von Widersprüchen ist, etwa 1086 Rezensionen da, wo konstatiert wird, dass Wilhelm II. nur die "Wünsche seiner Kamarilla und Hofgenerale" vollstrecke, den autokratischen Herrscher also nur vorspiegele, in Wahrheit aber ein Geschobener, eine schwache Galionsfigur sei. Wirklich neue Erkenntnisse bietet Ball nicht, weder zur Innen- noch zur Außenpolitik. Nichts geht darüber hinaus, was auch schon unter den Zeitgenossen im Umlauf war und von der regierungskritischen Presse diskutiert worden ist. Über die Bürokratie, die mit mageren zweieinhalb Seiten bedacht wird, konnte man bereits 1908 Besseres und Eindringlicheres bei Lothar Engelbert Schücking lesen, der als Bürgermeister im schleswig-holsteinischen Husum eine scharfe Abrechnung mit der "Reaktion in der inneren Verwaltung Preußens" veröffentlicht hatte, was ihn - nebenbei - sein Amt kostete.

Dem Reichstag und seinen Abgeordneten mag der Autor wenig Gutes abzugewinnen. Sämtliche Fehler, die dem Parlamentarismus anhafteten, könne man im deutschen "halbkonstitutionellen" System wie unter einem Brennglas studieren: "die Ausnutzung der politischen Stellung zur Bereicherung bestimmter Klassen, die Erfüllung der Verwaltung mit einseitigem Parteigeist, die Gelegenheitsgesetzgebung, die Behandlung großer Fragen vom Fraktionsstandpunkt". Verantwortlich dafür sei, wen wundert es, das "persönliche Regime" des Kaisers. Die Parteien, die durchweg mit einem Antiaffekt traktiert werden, hätten seit der Revolution von 1848 noch stets in die "Schmälerung von Parlaments- und Volksrechten" für ein Linsengericht von Orden, Titeln und Privilegien eingewilligt, der Liberalismus habe seine einstigen "schönen Grundsätze" der Sozialdemokratie überlassen, diese wiederum würde sich selbst mit Wilhelm II. gemein machen, wenn dieser sich ihren Forderungen geneigt zeige. Umstandslos alle Parteien seien ohne Einfluss, buhlten "gleich ungeniert um die Gunst der Regierung" und die Futterplätze an der "Krippe".

Am Schluss seines Büchleins wird Balls Ton drohend. Bislang, lässt er seine Leser wissen, habe er nur das referiert, was ohnehin bekannt sei. Tatsächlich verfüge er über sehr viel mehr einschlägiges Intimmaterial. Wenn er wollte, könnte er mit "Ministern und Exzellenzen aufwarten", die allmorgendlich ihren Ehefrauen Adieu sagten, um sich schnurstracks in die Arme ihrer Mätressen zu werfen. Man darf und soll aus diesen Worten schließen, dass die Hofgesellschaft ein wahrer Sündenpfuhl, die oberen Zehntausend durch und durch verderbt, korrupt und sittenlos seien. Warum, muss man fragen, schreibt ein Mann eine derart zornerfüllte, in den Niederungen der menschlichen Existenz herumgrabende Philippika? Richard Ball, dessen Schrift der Historiker Eberhard Demm mit einer weitläufig kommentierten Neuausgabe wieder ins Gedächtnis rufen möchte, hatte sich für eine subalterne Position im Auswärtigen Amt qualifiziert und es bis zum Kanzlisten gebracht. Offenbar gesegnet mit einem starken Gerechtigkeitsgefühl, hatte er 1902 an der Gesandtschaft in Den Haag einem Vorgesetzten vorgeworfen, dienstliche Briefmarken für private Zwecke benutzt zu haben. Der Bannstrahl des Amtes traf indes nicht den - zu Recht - Beschuldigten, sondern den, der das Vergehen angezeigt hatte. Dass es dahin kam, lag freilich auch an der Ungeschicklichkeit Balls selber. Eine ihm angebotene Versetzung nach Guatemala mit einem Jahresgehalt von 8000 Mark lehnte er ab und bat um seine Pensionierung. Froh, ihn loszuwerden, willigte man in der Berliner Wilhelmstraße ein, schickte den unbequemen Beamten mit einer vergleichsweise schmalen Pension in den Ruhestand. Das hatte Ball nicht erwartet, fortan galt sein Bestreben, die Pensionierung rückgängig zu machen. Dem dienten unzählige Briefe an hoch- und höchstgestellte Personen, nicht zuletzt an Kaiser Wilhelm II. und dessen Familienangehörige. Die Broschüre, die Ball 1911/12 in der Schweiz drucken ließ und die in Deutschland unverzüglich verboten Rezensionen 1087 und 1919 abermals aufgelegt wurde, war im Kern ein Erpressungsmanöver, verbunden mit der vergeblichen Hoffnung, damit auf öffentliche Resonanz zu stoßen und seine Ansprüche gegen das Auswärtige Amt durchsetzen zu können. Gescheitert ist der Mann, der am Ende ein elendes Leben fristen musste, nicht allein an den Gegebenheiten staatlicher Strukturen, sondern mindestens ebenso sehr an den Unzulänglichkeiten der eigenen querulatorisch gestimmten Natur. Ob die historische Forschung, wie Demm meint, wirklich von dieser als Bilanz zum 25-jährigen Thronjubiläum Wilhelms II. deklarierten Schrift stärker oder überhaupt hätte Kenntnis nehmen sollen, mag dahingestellt bleiben.

Jens Flemming


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