Bernd Jaspert

Walter Nigg und die Kirchengeschichte

Rezension


Der Schweizer Theologe Walter Nigg (1903-1988) gehört in seiner Selbstständigkeit und Eigenwüchsigkeit zu den anziehenden Gestalten der neueren Kirchengeschichte. Er selbst hat die Kirchengeschichte zu seinem Fach gewählt. Mit der Dissertation Das religiöse Moment bei Pestalozzi (Berlin 1927) wurde er 1926 in Zürich promoviert. 1931 hat er sich mit der Arbeit Franz Overbeck. Versuch einer Würdigung (München 1931) habilitiert. Einige Jahre später folgten Die Kirchengeschichtsschreibung. Grundzüge ihrer historischen Entwicklung (München 1934) und die Geschichte des religiösen Liberalismus. Entstehung - Blütezeit - Ausklang (Zürich und Leipzig 1937).

Die Dissertation über Heinrich Pestalozzi ging auf eine Preisarbeit zurück, die Nigg bereits als 23jähriger Student auf eine Ausschreibung der Universität Zürich geschrieben hatte. Früh also zeigte er sich als mutiger und origineller Kopf. Er hatte aus beengten und schwierigen Familienverhältnissen zur Theologie gefunden. In seiner schweizerischen Heimat war er als 16- Jähriger Hermann Kutter, Eduard Thurneysen, Karl Barth und Emil Brunner begegnet. Mit der Entscheidung für die Theologie fiel auch die, zunächst nach Göttingen zu gehen, Karl Barth dorthin zu folgen; trotz der Fragen, die er schon damals seiner Dialektik gegenüber hatte. Aber in Göttingen nahm er sich die Freiheit, auch Emanuel Hirsch und Erik Peterson Aufmerksamkeit zu schenken, die - in sehr unterschiedlicher Weise - Karl Barth gegenüber skeptisch waren. Nigg geht einen Weg auf eigene Faust, versammelt um sich einen Berg von Büchern, wendet sich in Leipzig der Philosophie zu; zurück in der Schweiz setzt er das Theologiestudium fort, in Zürich, u.a. bei Jakob Hausheer (dem wir die Übersetzung des Alten Testaments in der Zürcher Bibel verdanken), Emil Brunner und Walter Köhler. In diese Jahre fällt die frühe Eheschließung mit Lily Kölliker und eben auch bereits jene preisgekrönte studentische Arbeit über Pestalozzi. 1929 übernimmt Nigg seine erste Pfarrstelle.

Schon dem Studenten hat sich bei der Beschäftigung mit der Kirchengeschichte eine Hinwendung zur Hagiographie ergeben: Um den tieferen, religiösen Sinn der Geschichte zu erschließen, fand er sich gedrängt, die historisch- kritische Geschichtsschreibung zu überschreiten und später ganz hinter sich zu lassen.

Es galt, das Transzendente einzubeziehen in das geschichtliche Verstehen, dem Heiligen nachzuspüren, von Heiligen, von Engeln zu erzählen. So klar er einige Jahre später den Kritiker des Christentums Franz Overbeck verstehen und so entschieden er ihn gegen die Vereinnahmung durch Karl Barth verteidigen konnte, so sehr ging es ihm bei der Beschäftigung mit Heinrich Pestalozzi darum, den "christlichen Narren" als "Engel" zu zeichnen, "der aus einem fremden Erdteil in den unsrigen verschlagen worden war". Die Kirchengeschichte kann "nicht eine rein immanente Schilderung sein", schrieb er 1937; das "Metahistorische muss immer wieder durchschimmern".

Das Konfessionelle hat Nigg bereits in der Jugend schmerzlich als zu eng erlebt. Die Ketzer sollten ihn ein Leben lang anziehen wie die Heiligen und die Dichter und die Künstler. Wer war darin sein Lehrmeister gewesen? Einen Augenblick lang hatte ihn, wie gesagt, der junge Karl Barth interessiert. Doch seine Ablehnung der natürlichen Religiosität drohte nach Niggs Urteil den Zugang zur tieferen heiligen Wirklichkeit der Welt und des Menschenlebens zu verschließen. Gegen Karl Barth hielt er fest an seinem ursprünglichen Lehrer Hermann Kutter, der ihn angeleitet hatte, in der Welt den ihr von ihrem Schöpfer verliehenen heiligen Sinn zu entdecken. Andere Lehrer kamen hinzu, so Rudolf Otto oder Martin Buber; Rudolf Otto mit seinem berühmten Werk ›Das Heilige‹; Buber erschloss ihm den Chassidismus. Ernst Benz, der Schüler Erich Seebergs, wurde zum Weggefährten. Seeberg selbst wiederum hatte mit einem gewichtigen Werk auf Gottfried Arnold verwiesen4, der 1699/1700 die Kirchengeschichte als Ketzergeschichte zu beleuchten gewagt hatte. Die Außenseiter waren die Interessanten; weil es um das Innere ging, das Tiefere, um die Mystik. Warum wagten die akademischen Theologen nicht religiös vom Religiösen zu sprechen? Niggs Probevorlesung am 5. Januar 1931 trug den Titel ›Die spiritualistische Kirchengeschichtsschreibung Gottfried Arnolds‹.

Walter Nigg war Pfarrer und er blieb Pfarrer bis zum Eintritt in den Ruhestand im Jahre 1970, während seine akademische Wirksamkeit zu einem vorzeitigen Ende kam. Nach seiner Habilitation im Jahre 1931 lehrte er an der Universität Zürich, doch sein Überschreiten der akademischen Grenzen seines Fachs führte zum Zerwürfnis zwischen der Hochschule und ihrem Titularprofessor.

Die Venia legendi war Nigg seit dem WS 1931/1932 immer wieder für einzelne Semester erneuert worden. Seine Vorlesungen galten der ›Geschichte des Mönchtums‹, Mystikern, Heiligen, Ketzern. Um den Studierenden die Augen zu öffnen für das, was nach seinem Urteil weltweit über die Grenzen von Konfessionen und Religionen hinweg hineingehört in die Erzählungen von der Geschichte Gottes mit seiner Welt, griff Nigg weit über das Gebiet der Kirchengeschichte hinaus. Als der Dekan Victor Maag Bedenken gegen die Ankündigung Niggs anmeldete, im WS 1952/1953 aus dem Gebiet der Religionsgeschichte über Moses, Mohammed, Budda und Laotse lesen zu wollen (148), verzichtete Nigg 1955 auf die weitere Lehrtätigkeit in Zürich. In Marburg freilich war ihm inzwischen die Würde eines Ehrendoktors der Theologie verliehen worden (203).

Rückblickend notierte Nigg über die Folgen seiner 1928 vorgelegten, 1931 veröffentlichten, Habilitationsschrift über Franz Overbeck: "Tatsächlich war mit dieser Arbeit meine kirchenhistorische Laufbahn beendet, bevor sie begonnen hatte. Das Buch hat mich in die Rolle des Aussenseiters gedrängt "(60).

Als Schriftsteller blieb Walter Nigg von intensiver Tätigkeit. Er erreichte mit seinen Büchern eine große Öffentlichkeit. Der Übergang seiner wissenschaftlichen kirchengeschichtlichen Arbeit zur Hagiographie war wie gesagt früh angelegt. Erleuchtung verstand er als Voraussetzung seiner Beschäftigung mit den Heiligen; religiös ist die Schau der Religiösen, eine empathische Schau. Als Mystiker schreibt Nigg über die Mystik, auf der Spur des Göttlichen in der Geschichte. In einer Zeit der Gefährdungen der Menschlichkeit war nicht mit der dialektischen Theologie die Diastase zwischen Gott und Mensch zu verhandeln, sondern vielmehr die Nähe zwischen dem Schöpfer und seiner Menschheit. Mit dem Buch Große Heilige (Zürich 1946) wird Nigg einer großen Öffentlichkeit bekannt; er findet viele dankbare Leser. Die Heiligen sind verstanden als "die beständig neue Verleiblichung des Christentums "6. Nigg schöpft aus reichem geschichtlichem Wissen, ist dabei aber kein Historiker, sondern ein religiöser Schriftsteller. Die Frage nach der Hermeneutik ist gestellt, nach den Maßstäben des Verstehens, nach der Reichweite der Wissenschaft und nach der Legitimation der subjektiven Phantasie. Nigg will seine Leser hineinziehen in ein "Gespräch mit den Heiligen", in "ein Liebesgespräch im höheren Chor"; es geht um eine Herzenssache; wer den Heiligen prinzipiell aus dem Wege geht, leugnet einen Grundwert des Lebens und "versinkt im Sumpf des Relativismus".

An den Heiligen, an dem Religiösen in unserer Welt, darf nicht vorüber gegangen werden. Gegenüber der Dialektischen Theologie auf der einen Seite wie gegenüber der historisch-kritischen Kirchenhistorie auf der anderen Seite geht Nigg einen eigenen Weg:

"Zwar weiß ich, daß die Heiligen heute nicht gerade hoch im Kurs stehen, aber dies braucht uns nicht zu irritieren. Was gegenwärtig Mode ist, taugt ohnehin nicht viel. Bei den Heiligen aber handelt es sich um Menschen, die in einer ganz besonderen Nähe Gottes standen. Durch ihre Worte und Taten zählen sie zum Leuchtendsten und Substantiellsten der ganzen zweitausendjährigen Kirchengeschichte. Wir müssen nur den Mut, sie in ihrem ursprünglichen Licht zu sehen, indem wir die Ranken etwas zurückschneiden, die im Laufe der Zeit ihr wirkliches Leben beinahe überdeckten. Erst dann steht man vor diesen großen Nachfolgern Jesu Christi, bei deren Anblick und deren Ausstrahlung einem beinahe das Herz stille steht".

In der Veröffentlichung ist von Nigg in erhöhtem Ton, hymnisch die Rede. Der Autor weiß, was er tut; er will es so, es ist Ausfluss eben des Stils der Kirchengeschichte, den er von dem Außenseiter Nigg einsam, aber erfolgreich vertreten sieht. Man vermisst etwas die kritische Perspektive. Man könnte ja freilich bei Nigg auch lernen, wie man bei aller Wertschätzung eines Autors auch kritisch Distanz wahren und "Vergängliches und Unvergängliches" voneinander unterscheiden kann. Dass die persönliche Begegnung mit Walter Nigg durchaus kompliziert bzw. enttäuschend sein konnte, spiegelt sich in jüngst veröffentlichten Briefen der Erna Fitzner, die 1957 den Kontakt zu Nigg gesucht hatte.

Stephan Bitter


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