Bernd Jaspert

Walter Nigg und die Kirchengeschichte

Rezension


Geschichten von Heiligen und Ketzern

Was die Theologie von Walter Nigg lernen könnte

Ein Foto aus dem Jahre 1955: Ein Mann im Alter von zweiundfünfzig Jahren. Im Anzug sitzt er auf einer mit Gestrüpp bewachsenen Sanddüne an der Ostsee, die Hosenbeine hochgekrempelt, die nackten Füße im Sand. Weltvergessen und bebrillt, beugt er sich über ein Notizbuch, in das er schreibt. Der Schnappschuss zeigt den Schweizer Theologen Walter Nigg (1903 bis 1988). Auch im Urlaub kann sich der vielgelesene Autor nicht von der Arbeit trennen.

Viele Schriften des Schweizer Kirchenhistorikers und reformierten Pfarrers werden bis heute aufgelegt. Geschätzt wird er von Nichttheologen und Nichthistorikern, während Fachleute Büchern wie "Große Heilige" und "Das Buch der Ketzer" kaum Aufmerksamkeit schenken. Zu Unrecht, belehren uns zwei neue Publikationen. Uwe Wolff, hervorgetreten durch eine umfangreiche wissenschaftliche Nigg-Biographie, entwirft ein sympathisches Bild des Autors. In den zwanziger Jahren ist Nigg Margarete Susmans "Frauen der Romantik" begegnet und damit der damals neuen, intuitiven, literarisch-künstlerischen Biographik, die bald im Werk von Stefan Zweig ihren Höhepunkt erleben sollte. Wie Susman über die Romantikerinnen, so muss man über Heilige, religiöse Denker und Ketzer schreiben, sagte sich Nigg. Und tat es.

Die in Zürich lebende Margarete Susman wurde zur Beraterin und zur Begleiterin seines literarischen Schaffens - eine bemerkenswerte jüdisch-christliche Koalition Niggs rund fünfzig Bücher handeln von Mönchen, prophetischen Denkern - unter denen Nietzsche und Dostojewski nicht fehlen - ‚ Mystikern, Don Bosco und dem Pfarrer von Ars, um nur einige Gruppen und Namen zu nennen. Die Konfession und Orthodoxie seiner Helden und Heldinnen spielte für Nigg keine Rolle. Es kam ihm allein auf geistliche Qualität und spirituelle Echtheit an.

Das lange erste Jahrzehnt von Niggs hagiographischem Schaffen war eng mit seiner Lehrtätigkeit an der Zürcher theologischen Fakultät verknüpft; dann aber kam es zum Zerwürfnis. Als er eine Vorlesung über Mose, Mohammed, Buddha und Laotse als Religionsstifter anbieten wollte, erhob die Fakultät Einspruch; dazu fehle dem Honorarprofessor die Kompetenz. Es kam zum Bruch; im Jahr 1955 gab Nigg die Professur auf. Das eingangs erwähnte Foto zeigt Nigg, den von akademischer Bürden befreiten Schriftsteller. Er musste fortan neben der Schriftstellerei nur noch seiner Pfarrei in Dällikon dienen. Als akademischer Einzelkämpfer blieb Nigg nicht nur in seiner Fakultät ein Außenseiter. Auch den Mode-Theologen seiner Zeit konnte er nicht abgewinnen. Weder mit der Rudolf Bultmanns Entmythologisierung noch mit der dialektischen Theologie seines Lehrers Karl Barth konnte er sich anfreunden. Martin Buber stand ihm näher, und er ließ sich von dessen Begeisterung für ostjüdische Mystiker anstecken. Mit Hans Urs von Balthasar verband ihn das Interesse an den Heiligen, wenn auch der Kontakt zu dem katholischen Zeitgenossen sporadisch und etwas spröde blieb.

Erscheint Niggs Werk auf den ersten Blick als das eines geistlichen Schriftstellers, so entdeckt ein zweiter Blick ein beachtliches kirchenhistorisches Programm - das einer spirituell gesättigten hagiographischen Frömmigkeits- und Kirchengeschichte. Zum Bedauern von Bernd Jaspert hat die theologische Disziplin der Kirchengeschichte bis heute von diesem Programm keine Notiz genommen. Zu ihrem eigenen Schaden, denn in der Zeit der blühenden Kulturwissenschaft könnte Nigg der ihrer Aufgabe unsicheren Theologie neue Impulse geben. Und nicht zuletzt die von der Theologie verlangte Synthese von Glaube und Geist, Spiritualität und Rationalität erleichtern. So erinnern Bernd Jaspert und Uwe Wolff nicht nur an einen fruchtbaren Schriftsteller, sondern auch an die wichtigste Aufgabe der Theologie.

Bernhard Lang


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