Wolfhart Henckmann

Geist und Buchstabe

Zur Edition von Schelers Nachlass in der Ausgabe der Gesammelten Werke

SCHELERIANA, Band 4

Rezension


Hermeneutik im Archiv

Welche Bedeutung hat die editorische Arbeit am Text? Überlegungen am Beispiel Schelers, Husserls, Wittgensteins und Heideggers

Keiner philosophiert allein. Immer schon ist unser Fragen und Suchen geleitet von Anderen: im Gespräch in der Auseinandersetzung mit unseren Zeitgenossen und durch die Lektüre der großen Philosophinnen und Philosophen der Vergangenheit. Ihr Denken ist uns in Schriften überliefert. Die überlieferten Arbeiten lesen wir nicht als anonyme Texte, sondern als Versuche einer Autorin oder eines Autors, eine Frage oder ein Problem zu skizzieren und zu bearbeiten. Da vieles mit anderem zusammenhängt, lesen wir häufig nicht nur eine Arbeit, sondern versuchen uns, dem Denken einer Autorin bzw. eines Autors zu nähern, indem wir auch weitere Arbeiten lesen, die wir als Arbeiten "dieses" Autors lesen.

In der Regel lesen wir die Texte der unmittelbaren Vergangenheit in dem Bewusstsein, dass sie in der Form, in der wir sie lesen, von der Autorin oder vom Autor in den Druck gegeben und mit ihrem Imprimatur versehen worden sind. Bei den Autoren der Antike wissen wir, dass es lange Überlieferungsgeschichten gibt und wir niemals ganz sicher sein können, in welcher Form sie von wem verfasst worden sind. Dennoch lesen wir Aristoteles' "Nikomachische Ethik" und "De Anima" als Texte, die ein Autor verfasst hat. Es mag einige klassische Texte geben, die sich, so könnte man sagen, von ihren Autoren emanzipiert haben. Dies ist jedoch eher die Ausnahme.

Schwierigkeiten mit der Überlieferungsgeschichte gibt es jedoch auch in der unmittelbaren Vergangenheit in vielfältiger Weise. Zu den einflussreichsten Werken, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts publiziert wurden, zählen zahlreiche Bücher, die von ihren Autoren nicht in der veröffentlichten Form verfasst worden sind, sondern erst durch die Arbeit von Herausgeberinnen und Herausgebern in diejenige Fassung gebracht worden sind, die dann ihre Leser gefunden und eine enorme Wirkung entfaltet hat: z. B. Karl Marx' Ökonomisch- Philosophische Manuskripte (auch als "Pariser Manuskripte" bekannt) oder Friedrich Nietzsches "Der Wille zur Mach"t. Vor allem im Fall Nietzsches sind die Probleme der postum edierten Fragmente bekannt. Nietzsche hatte den Plan eines Buches "Der Wille zur Macht". "Versuch einer Umwertung aller Werte"; aber wie die Realisierung dieses Planes ausgesehen hatte, ist Spekulation. Die verschiedenen unter dem Titel erschienenen Kompilationen gelten heute als verfälschend, vor allem weil die Anordnung der Texte von den jeweiligen Herausgebern in Richtung auf eine bestimmte Lektüre vorgenommen wurde. Hinzu kommen wie bei vielen Editionen Entzifferungsfehler. Dass die Ausgaben von Nietzsches Nachlass so umstritten sind, hängt aber sicher auch mit ihrer Wirkung zusammen. "Der Wille zur Macht" war wesentlicher Bezugstext für die Entwicklung der verschiedenen Spielarten der rechten Nietzscherezeption in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus (Ernst Jünger, Heidegger, Bäumler u. a.). Will man Nietzsche gegen diese Auslegung verteidigen, dann ist es attraktiv, die für diese Auslegung am häufigsten herangezogenen Texte als editorisch fragwürdig einzustufen. Man entledigt sich so der Aufgabe, die inhaltliche Illegitimität der Deutung nachweisen zu müssen.

Aber sieht es bei den aus dem Nachlass publizierten Arbeiten anderer berühmter Autoren wirklich besser aus? Die Geschichtswissenschaft, die die Quellen der nationalsozialistischen Philosophie zu rekonstruieren versucht, kann sich gegenüber der Frage, inwiefern "Der Wille zur Macht" tatsächlich Nietzsches Intentionen entspricht, zurückhaltend verhalten. Für sie ist v. a. die Wirkungsgeschichte eines Buches interessant. Anders verhält es sich in der Philosophie, die sich an Autoren und ihrem Werk orientiert. Warum dies so ist, kann und soll hier nicht weiter begründet werden. Offenkundig scheint es jedoch (immer noch) so zu sein, dass die hermeneutische Anstrengung der Philosophie darauf abzielt, das Werk einer Philosophin oder eines Philosophen nicht als einen autonomen Text, sondern als Ausdrucksversuch einer Autorin bzw. eines Autors aufzufassen (und zwar auch in solchen Fällen, in denen dies offenkundig darauf hinausläuft, einen Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat).

In der Regel kümmern sich Philosophinnen und Philosophen wenig um editorische Probleme. Erst wenn es um Arbeiten geht, die aus dem Nachlass einer Autorin oder eines Autors veröffentlicht werden, stellt sie sich die Frage, ob ein Text so veröffentlicht wurde, dass er als übereinstimmend mit den Absichten des Autors gelesen werden kann - und nicht als Ausdruck der Ansichten der Editoren. Blickt man auf die Werkausgaben der großen Autoren des 20. Jahrhunderts, dann stellt sich die hier angezeigte Problemlage sehr unterschiedlich dar. Bei vielen Philosophen kann man zu Recht sagen, dass der Nachlass eigentlich keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt. Es gibt jedoch auch eine nicht geringe Zahl von Autoren, bei denen sich die Frage in eminenter Weise stellt, da ein großer Teil ihres Werkes aus dem Nachlass veröffentlicht worden ist bzw. noch wird. Prominent sind die Nachlässe von Heidegger, Husserl und Wittgenstein. Am krassesten ist sicher der Fall Wittgensteins. Dem schmalen Bändchen des "Tractatus" (1922) stehen die mehr als 20 000 Seiten des Nachlasses zur Seite. Wittgenstein ist insofern ein besonderer Fall, als er sein Werk absichtlich nicht zu seinen Lebzeiten veröffentlichte, zugleich aber offensichtlich auf eine Veröffentlichung nach seinem Tod hingearbeitet hat - jedenfalls hat er kurz vor seinem Tod Rush Rhees, Elizabeth Anscombe und Georg Henrik von Wright, mit denen er seit vielen Jahren befreundet war, mit der Herausgabe seiner Schriften betraut. So kam es dann auch. Wittgensteins internationaler Ruhm begann mit der Veröffentlichung der "Philosophischen Untersuchungen" (1953).

Die Geschichte dieses Ruhms ist sicher nur durch eine pragmatische, zügige und lesefreundliche Edition seines Nachlasses möglich gewesen. Je berühmter ein Autor wird, desto intensiver werden die Versuche, sein Werk in seinen Zusammenhängen zu verstehen. Der Aufweis von klaren Zusammenhängen ist darauf angewiesen, dass bezüglich der Textgrundlage keine Uneindeutigkeiten vorliegen. Zunächst gibt es in der Regel ein Vertrauen in die editorische Praxis. So war es auch bei Wittgenstein, wie Christian Erbacher in seinem klaren und informativen Überblick über die editorische Sachlage im Fall Wittgensteins schreibt. Die Leser mussten darauf vertrauen, "dass die Editoren die richtigen Entscheidungen gefällt hatten und Wittgensteins Denken zuverlässig präsentiert wurde". Je mehr die akademische Gemeinschaft sich der Tatsache bewusst geworden ist, dass es sich um Leseausgaben handelt, die den "Kriterien kritischer Edition nicht standhalten würden", und "je mehr Schriften Wittgensteins erschienen, desto dringender wurde jedoch die Frage, wie genau sich die Ausgaben zu ihren Quellen verhielten". Ihre editorischen Entscheidungen, so Erbacher, hatten die Herausgeber auf der Basis jenes Vertrauens gefällt, das ihnen Wittgenstein durch sein Testament und in persönlichen Gesprächen ausgesprochen hatte. Hätte man gewusst, wie viele Entscheidungen die Herausgeber treffen mussten, hätte man Wittgenstein vielleicht anders gelesen. Zwei historisch-kritisch angelegte Ausgaben geben nun seit einigen Jahren dazu Gelegenheit, die zunächst edierte "Leseausgabe" mit den Manuskripten Wittgensteins zu vergleichen: die sogenannte "Wiener Ausgabe" und die online erscheinende "Bergen Electronic Edition" (BEE), die durch ihre vollständige Faksimilierung die Möglichkeit gibt, jede editorische Entscheidung zu überprüfen. Michael Nedo, der Herausgeber der "Wiener Ausgabe", berichtet folgende aufschlussreiche Anekdote: Anscombe, die bereits mit den Vorbereitungen zur Veröffentlichung seiner Schriften begonnen hatte, habe Wittgenstein kurz vor seinem Tod gefragt, wie sie denn mit einigen Varianten verfahren solle. Wittgenstein habe daraufhin geantwortet, dass er gegenwärtig, d. h. krank und unter dem Einfluss von Medikamenten stehend, noch weniger in der Lage sei, eine Entscheidung zu fällen, als zum Zeitpunkt der Arbeit an den Manuskripten. Als Anscombe weiter insistierte, hatte Wittgenstein resigniert empfohlen: "Toss a coin!"

Aber Wittgenstein ist kein Einzelfall. Auch im Falle Heideggers hat der Nachlass eine große Bedeutung. Jedenfalls übertrifft die Anzahl der aus dem Nachlass veröffentlichten Bände das zu Lebzeiten von Heidegger selbst in Druck Gegebene deutlich. Heideggers Fall ist unter editorischen Gesichtspunkten auch deshalb interessant, weil Heidegger schon früh selbst eine zukünftige Publikation seines Nachlasses vorbereitet hat. Unter wirkungsgeschichtlichen Gesichtspunkten hat sein Nachlass, verglichen etwa mit dem Wittgensteins oder Husserls, eine ganz andere Geschichte. Heideggers philosophisch wirkmächtige Schriften sind und waren die von ihm selbst in Druck gegebenen Arbeiten. Die kontinuierliche Veröffentlichung des Nachlasses hat bisher nur in Ansätzen zu einem neuen oder anderen Bild des Philosophen Heidegger geführt, obwohl seine Nahe zu nationalsozialistischen und antisemitischen Zeitströmungen sehr deutlich geworden ist. Jedenfalls ist in der Philosophie eine breite Wirkung von Heideggers Nachlass nicht festzustellen. Der Fall Heidegger wird wie ein historischer Fall behandelt, so als ob es sich bei den von Heidegger selbst in Druck gegebenen Arbeiten um das Werk eines anderen Autors handelte. Eher die Ausnahme ist Reinhard Mehring, der die Ansicht vertritt, Heidegger habe mit seinem Nachlass versucht, entscheidende Umstellungen seines Denkens vorzunehmen. Mehring hat der Arbeit Heideggers am eigenen Nachlass ein ganzes Buch gewidmet, in dem er nachzuweisen versucht, dass Heideggers "Gesamtausgabe" "in der Nietzsche-Nachfolge die semantische, mentale und habituelle ‚Zucht und Züchtung' des Heideggerianers als gegenwärtige Gestalt des Übermenschen und ‚künftigen Menschen' betrieb".

Ein wiederum ganz anders gelagerter Fall ist Max Scheler. Sein Nachlass hat sicher nicht die Rolle für das Gesamtwerk wie der Wittgensteins oder Husserls, aber er ist dennoch von großer Bedeutung. Scheler starb relativ früh mit 53 Jahren kurz nach seiner Berufung nach Frankfurt am Main 1928. Seine letzte Frau, Maria Scheler, die schon seine Veröffentlichungen der letzten Jahre betreut hatte, begann sehr bald den Nachlass zu sichten und die Manuskripte zu transkribieren. 1933 erschien ein erster Band nachgelassener Schriften Schelers unter dem Titel "Zur Ethik und Erkenntnislehre". Der Band enthielt einige hochkarätige Abhandlungen, die bis heute zu den am meisten rezipierten Texten Schelers gehören, so den Aufsatz "Über Scham und Schamgefühl" und die Grundlagenschrift "Phänomenologie und Erkenntnistheorie". Nach 1933 musste Maria Scheler ihre Arbeit unterbrechen. Neue Arbeiten Schelers durften aufgrund seiner jüdischen Herkunft bald nicht mehr vertrieben werden. Nach 1945 bemühte sich Maria Scheler um die Möglichkeit einer Ausgabe von "Gesammelten Schriften" Schelers. Es gelang ihr, einen Verlag zu finden und bis zu ihrem Tod 1969 sechs Bände der "Gesammelten Werke" zu veröffentlichen, darunter auch eine zweite überarbeitete Auflage des bereits 1933 erschienenen Nachlassbandes. Der in die USA emigrierte Manfred Frings übernahm nach ihrem Tod die Rolle des Herausgebers. Er betreute weitere vier Bände, in denen die von Scheler zu Lebzeiten in Druck gegebenen Aufsätze und Bücher erschienen, und bearbeitete fünf weitere Bände Schriften aus dem Nachlass. Der letzte kam 1997 heraus. Die Ausgabe der Gesammelten Werke Schelers gilt damit als abgeschlossen, obgleich nur ein Teil des Nachlasses veröffentlicht wurde und es auch keinen Band gibt, in dem Briefwechsel Schelers aufgenommen worden sind. Während es sich bei den im ersten Nachlassband veröffentlichten Arbeiten um relativ fertige Texte handelt, bieten die fünf anderen Bände eine bunte Mischung aus Manuskripten, die aus unterschiedlichen Schaffensperioden Schelers stammen.

Wolfhart Henckmann hat die Veröffentlichung von Schelers Nachlass in den sechs Nachlassbänden innerhalb der 15 Bände der "Gesammelten Werke" kritisch geprüft. Seine Untersuchungen setzt er so grundlegend an, dass ein ganzes Buch dabei herausgekommen ist. Henckmann arbeitet seit Jahren intensiv zu Max Scheler. Schon die Ausgabe der "Gesammelten Schriften" Schelers hat er wiederholt kritisch kommentiert, zunächst v. a. durch den Nachweis, dass es zahlreiche nicht kenntlich gemachte gliedernde und stilistische Texteingriffe in den Gesammelten Werken gebe. 2013 hat er sich die Bände "Vom Ewigen im Menschen und Wesen und Formen der Sympathie" genauer vorgenommen und detaillierter Probleme aufgewiesen, u. a., dass bei letzterem zahlreiche Eingriffe vorgenommen worden sind, bei denen nicht klar ist, wer für sie verantwortlich ist (Scheler in einem möglicherweise verlorenen Handexemplar, Maria Scheler oder Frings). In den letzten Jahren hat Henckmann selbst einige Stücke aus Schelers Nachlass veröffentlicht, die in die Nachlassbande der "Gesammelten Werke" nicht mit aufgenommen worden sind. Im Zuge dieser Arbeiten hat er auch die Veröffentlichung zahlreicher Stücke in den Nachlassbänden überpruft und ist zu einem ernüchternden Ergebnis gekommen. Bei Schelers Werken, so Henckmann, haben wir es mit einem "Editionstypus zu tun, der seine philologische Wissenschaftlichkeit in gewisser Weise diskreditiert". Schon der von Maria Scheler bearbeitete Band weist zahlreiche Schwierigkeiten auf: Maria Scheler habe "Sätze vereinfacht, Textteile umgestellt, grammatische Fehler" korrigiert, ohne die Eingriffe nachvollziehbar zu machen . Noch schwerer seien jedoch die Eingriffe von Frings zu bewerten. Frings habe die Transkriptionen von Maria Scheler verwendet, ohne sie genau zu überprüfen, und so zahlreiche Fehler übernommen und Schelers Ausführungen durch eigene "Kurzfassungen" ersetzt, "als ob erst der Editor auf den Begriff zu bringen vermochte, was der Autor unvollständig oder missverständlich auszudrucken versuchte". Durchgehend vermisst Henckmann klar formulierte editorische Prinzipien. Wo Frings seine Kriterien offenlegt, moniert Henckmann zu Recht einen viel zu großen Spielraum für seine eigenen Interpretationen: so etwa, wenn es bei Frings im Nachwort zu Band 11 heißt, dass eine Anzahl von "Nebenbemerkungen, bibliographischen Verweisen, Flickwörtern, nicht den Sinn der Manuskripte beeinträchtigenden Einschüben, Verweisen auf Autorennamen, allgemeinere Digressionen, Gedankenstützen des Verfassers" zugunsten der klareren Lesbarkeit gestrichen wurden (zit. 53).

Ein weiteres Problem, das auch von anderen Nachlass-Ausgaben bekannt ist, besteht darin, dass nicht immer klar ist, welche im Nachlassverzeichnis Schelers aufgelisteten und mit einer Signatur versehenen Manuskriptteile Frings wo veröffentlicht hat. Jeder einfache Versuch, die Veröffentlichung mit der Vorlage zu vergleichen, wird so unnötig erschwert. Henckmanns abschließendes Urteil ist drastisch, aber im Einzelnen gut begründet: "An der Kontrolle des Buchstabens haben es die beiden Herausgeber jedoch immer wieder fehlen lassen, sehr viel weniger Maria Scheler, in hohem Maße aber M. S. Frings. Man kann auch nicht sagen, dass im Laufe der Entstehung der Gesammelten Werke ständig an der Verbesserung der Kontrolle des Buchstabens gearbeitet worden wäre, die Nachlass- Ausgabe also ‚gelernt' hatte, eher im Gegenteil - die Gesammelten Werke zeigen vielmehr Spuren editorischer Ermattung".

Die technischen Mängel der Edition, die Henckmann nachweist, sind so fundamental, dass eine neue, grundsätzlich anders ansetzende Edition notwendig erscheint. Für ein solches Unternehmen spricht weniger die Möglichkeit, bei einer neuen Ausgabe die vielen Übertragungsfehler zu vermeiden, sondern die Notwendigkeit, weitere Teile des Nachlasses zugänglich zu machen und die Bezüge zwischen den verschiedenen Texten für den Leser nachvollziehbarer zu machen, so dass sich ein vollständigeres Bild von Schelers System ergeben kann. Um die Bedeutung der Arbeit an einer möglichen neuen Edition von Schelers Nachlass zu bewerten, muss man sich die Besonderheit von Schelers Philosophie vergegenwärtigen. Scheler hat auf sehr vielen philosophischen Gebieten gearbeitet und dabei eigentlich fast immer erkenntnistheoretische, ontologische, metaphysische und normative Frage- und Problemstellungen miteinander verknüpft. Die wechselseitigen Abhängigkeiten seiner verschiedenen Theorien hat er in einer allgemeinen Perspektive schon früh markiert: Im Vorwort zur ersten Auflage von "Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik" schreibt er im September 1916: "Es mag dort und da eine Auffassung der Phänomenologie auftauchen, nach der sie es nur mit je isolierten Phänomenen und Wesenheiten zu tun habe und der gemäß jeder ‚Wille zum System ein Wille zur Lüge' sei. Dieser Bilderbuchphänomenologie weiß sich der Verfasser völlig ferne." Jeder Leser Schelers steht vor dem Problem, dass bei Scheler "alles mit allem zusammenhängt". Um dies an einem Beispiel zu erläutern: Schelers Intersubjektivitätstheorie im "Sympathiebuch" braucht die Theorie der Gefühle aus dem ersten Teil des Formalismus. Hier legt Scheler die begrifflichen Grundlagen fur Phänomenbeschreibungen, die es ihm dann erlauben, im zweiten Teil des Formalismus eine Lehre von den Wesensformen menschlicher Gruppen (Masse, Gemeinschaft, Gesellschaft, Gesamtperson) zu entwickeln. Diese wiederum sind nur verständlich, wenn man die ihnen korrespondierenden Sympathieformen kennt. Keines der Bücher ist ohne das andere vollends zu verstehen.

Scheler hat seine Leser zwar häufig dadurch strapaziert, dass er manche Argumente nicht ausführlich genug entwickelt hat, aber viele Stellen seiner Werke werden begleitet von Verweisen auf Argumente, die in anderen Büchern entfaltet werden. Manche dieser Bücher sind erschienen, viele aber auch nicht. Es wäre einmal eine reizvolle Aufgabe, eine Bibliographie der angekündigten, aber nicht erschienenen Bücher Schelers zu erstellen. Sie wäre nicht kurz. Schon daraus ergibt sich eine besondere Bedeutung des Nachlasses, der so manches fehlende Puzzlestück von Schelers System enthält. Da die Herausgeber aber viele Verweise gestrichen haben - insbesondere die Hinweise auf die nicht veröffentlichten Arbeiten -, muss der Leser, der diesen Fährten nachspuren will, die von Scheler selbst in Druck gegebenen ursprünglichen Fassungen kontrollieren. So weist Henckmann z. B. darauf hin, dass Scheler in den kurzen Teilen des Scham-Aufsatzes, die er 1913 in der Zeitschrift "Geschlecht und Gesellschaft" veröffentlicht hat, auf ein geplantes Buch mit dem Titel "Das Wesen des Schamgefühls" hingewiesen hat, das als erster Teil eines Werkes "Über den Sinn des emotionalen Lebens" in den kommenden Monaten erscheinen werde. Diese Stelle wurde aber in der Werkausgabe gestrichen (27). Wie so viele angekündigte Schriften ist das Buch nie erschienen. Scheler hat allerdings 1923 die zweite Auflage des Buches über die Sympathiegefühle als ersten Band einer Reihe mit dem Titel "Die Sinngesetze des emotionalen Lebens" erscheinen lassen, dem er, wie er im Vorwort ankündigt, drei weitere Bände folgen lassen wollte, u. a. einen Band über "Wesen und Formen des Schamgefühls". Schon hier wird deutlich, inwiefern eine neue Edition nützlich wäre. Interessant wäre es auch, die - von wem auch immer - durchgestrichenen Passagen des Manuskripts lesen zu können. Henckmann führt z. B. folgende Stelle an: "Nach ‚richtigem Rechte' müsste daher der Missionar wegen ‚groblicher Verletzung des Schamgefühls' genauso bestraft werden, als wenn er einer Frau seines Volkes den Rock aufgehoben hätte". Da Schelers postkolonialistische These von einer Universalität des Schamgefühls quer zum konstruktivistischen Mainstream steht, wäre es durchaus sinnvoll gewesen, auch diese Bemerkung aufzunehmen. Scheler wendet sich hier gegen die immer noch weit verbreitete Annahme, dass es sich beim Gefühl der Scham um ein historisch entstandenes Gefühl handelt. Nur an solchen Beispielen wird klar, wie stark Scheler gegen eine kolonialistische Geschichtsphilosophie opponierte, der zufolge es einen in der Geschichte zu identifizierenden Prozess der stetig wachsenden Triebkontrolle durch Zunahme von Schamgefühlen gibt.

Henckmann betont selbst, dass die Frage, ob gestrichene Stellen ediert werden sollen, nicht leicht zu entscheiden sei. Was am Ende am schwersten wiegt, ist sein Urteil über die Auswahl, die Frings für die fünf unter seiner Herausgeberschaft erschienenen Bände gefällt hat. Natürlich muss man dem intimen Schelerkenner Henckmann hier ein wenig vertrauen, wenn man seiner Kritik folgen will, denn ein begründetes Urteil könnte man nur fällen, wenn der Nachlass schon bekannt wäre. Die seitenlangen Passagen, die Henckmann an verschiedenen Stellen seiner Untersuchung anführt, sollten jedoch ein ausreichender Beleg sein. Insbesondere bei Band 13 der "Gesammelten Werke", in dem Texte aus dem Themenbereich Philosophie und Geschichte veröffentlicht worden sind, führt Henckmann eine längere Passage aus Schelers Vorlesung über die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Geschichtswissenschaft an, an denen sich sehr schön die Bedeutung, die Scheler seiner Theorie des Fremdverstehens für die Geschichtswissenschaft zuerkennen wollte, studieren lässt. Auch präsentiert Henckmann den Text bereits in einer Form, die als Vorbild für zukünftige Editionen dienen kann - durch klaren Ausweis, was von Scheler stammt und was der Herausgeber um einer besseren Lesbarkeit willen ergänzt hat.

Wer in Zukunft über diejenigen Texte Schelers arbeitet, deren Edition Henckmann kritisch beleuchtet hat, wird bei wichtigen hermeneutischen Fragen nicht umhin können, zu prüfen, ob diejenigen Passagen, die er zitiert, tatsächlich in der belastbaren Form vorliegen, die die Ausgabe der "Nachgelassenen Schriften" suggeriert. Aber warum konnte eine Edition, die sich über Jahrzehnte hingezogen hat, so schiefgehen? Gab es nicht früh schon Anzeichen, die es nahegelegt hatten, editorische Prinzipien zu überdenken und Kontrollmöglichkeiten in den Editionsprozess zu integrieren? An kritischen Stimmen hat es ab Mitte der 1980er-Jahre nicht gefehlt. Henckmann selbst und Hans Rainer Sepp haben schon vor Abschluss der "Gesammelten Werke" auf gravierende Mängel hingewiesen.

Ein erstes grundsätzliches Problem ist, dass es keine klaren editorischen Prinzipien gab; ein zweites, dass es keine zuverlässige, d. h. vollständige und autoptisch überprüfte Bibliographie gab (und bis heute nicht gibt), obgleich es sich hierbei ohne Frage um eine der grundsätzlichsten Aufgaben der Forschung handelt. Jede Planung der ‚Gesammelten' Schriften eines Autors ist auf eine solide Quelle angewiesen, in der alles Erschienene erfasst ist. Im Falle von Autoren vom Typ Schelers ist eine Bibliographie eine mühsame Arbeit: Schließlich gilt es nicht nur, alle Angaben autoptisch, d. h. mit eigenen Augen zu prüfen, sondern auch verschiedene Textstufen anzuführen, um überhaupt abschätzen zu können, welche Aufgabe bei einer möglichen Edition auf die Editoren zukommt. Die bislang erarbeiteten Bibliographien Schelers sind durchgehend mangelbe- haftet - und da sich viele Fehler in mehreren Bibliographien finden, ist zu vermuten, dass die Autoren einfach Angaben übernommen haben, ohne sie selbst zu überprüfen. Einige Beispiele: Der für die Geschichte der Phänomenologie und der Philosophie Schelers grundlegende Aufsatz "Über Selbsttauschungen" wird immer wieder auf das Jahr 1912 datiert, obwohl der Aufsatz im ersten Heft der "Zeitschrift für Pathopsychologie" erschienen ist, das am 15.8.1911 ausgegeben wurde. Weitere Fehldatierungen hat Henckmann nachgewiesen. Besonders irritierend ist der Hinweis vieler Bibliographien auf einen angeblich 1925 erschienenen Text "Phänomenologie und Erkenntnistheorie". Ein Aufsatz mit diesem Titel ist aber erst im ersten Nachlassband 1933 veröffentlicht worden. Da auch einige Angaben im Nachlassverzeichnis Schelers von Avé-Lallement nicht korrekt zu sein scheinen, wurde es sich eventuell auch anbieten, eine Bibliographie Schelers mit einer Revision des Nachlassverzeichnisses zu verknüpfen. Auch musste man Klarheit darüber bekommen, welche Handexemplare von Schelers Schriften erhalten sind und welche nicht. Maria Scheler hat in ihrem ersten Bericht über die Lage von Schelers Nachlass geschrieben, dass alle "persönlichen Exemplare der Werke Max Schelers mit vielen handschriftlichen Notizen" vollständig verloren gegangen seien. In ihrem Nachwort zu Band 8 der "Gesammelten Werke" heißt es jedoch, ein Arbeitsexemplar von "Die Wissensformen und die Gesellschaft" sei ihr als einziges von den Arbeitsexemplaren Max Schelers mit Randnotizen erhalten geblieben. Henckmann hat darüber hinaus auf einzelne lose Blätter mit Anmerkungen von Schelers Hand aus Schelers Handexemplar von "Wesen und Formen der Sympathie" hingewiesen. Also sind doch nicht alle Handexemplare verloren gegangen. Befinden sich im Nachlass vielleicht noch weitere Exemplare, die nur nicht katalogisiert wurden? Es wäre nicht das erste Mal, dass sich die stets wiederholte Beteuerung, die Handexemplare eines Autors seien verschwunden, als falsch erweisen wurde, wie der Fall Ernst Troeltschs zeigt, dessen Handexemplare Friedrich Wilhelm Graf nach jahrelanger Suche schließlich doch noch gefunden hat.

"Habent sua fata libelli" - das gilt umso mehr für Nachlässe, so auch insbesondere für den Nachlass Edmund Husserls. Die Geschichte der Rettung von Husserls Nachlass ist eine Abenteuergeschichte. Der Franziskanerpater Herman Leo Van Breda hatte kurz nach Husserls Tod 1938 dafür gesorgt, dass der Nachlass Husserls, der von der Vernichtung durch die nationalsozialistischen Behörden bedroht war, nach Löwen in Belgien transportiert und nach Gründung des Husserl-Archivs auch bald bearbeitet werden konnte. Die Aufgabe, vor die man sich gestellt sah, war immens. Die Manuskripte hatten einen enormen Umfang: 40 000 Seiten, die in einer schwer zu entziffernden seltenen Kurzschrift verfasst, sowie 10 000 Seiten maschinenschriftliche Manuskripte, die von Husserls Assistenten in langjähriger Arbeit vorbereitet worden waren.

Viele dieser Manuskripte, aber längst nicht alle, sind seit Beginn der Veröffentlichung der "Gesammelten Werke" Husserls in den sogenannten "Husserliana" erschienen. Die bisher 42 Bände umfassende Reihe findet demnächst ihren Abschluss mit drei hochkarätigen Bänden, sie wird außerdem flankiert von neun Bänden in der Reihe "Husserliana Materialien" und der zehnbändigen Briefausgabe. In einem neuen Anlauf werden die "Ideen II und III" bald in ihrer Urfassung präsentiert und die späte, von Husserls langjährigem Assistenten Ludwig Landgrebe redigierte Arbeit "Erfahrung und Urteil" (zuerst 1938 in Prag gedruckt) historisch-kritisch ediert, so dass nun erstmals klar erkennbar sein wird, welche Teile der Arbeit von Husserl und welche von Landgrebe stammen. Außerdem ist ein Band mit Arbeiten unter dem Titel "Verstand, Gemüt und Wille. Studien zur Struktur des Bewusstseins" angekündigt.

Blickt man, vor den 42 Bänden der "Gesammelten Werke" stehend, auf Husserls Werk, dann ergibt sich folgendes Bild: Den einflussreichen Hauptschriften, d. h. den "Logischen Untersuchungen", dem ersten Band der "Ideen zu einer reinen Phänomenologie", den "Cartesianischen Meditationen" und der "Krisis", steht ein deutliches Übergewicht an Arbeiten aus dem Nachlass gegenüber. Nimmt man die in den "Husserliana-Materialien" veröffentlichten Arbeiten auch noch hinzu, dann ergibt sich ein noch größeres Ungleichgewicht. Bedenkt man, dass es Husserls Arbeits- weise war, quasi alle Gedanken mitzustenographieren, dann muss der Versuch, Husserls Gedankenbewegung zu folgen, notwendig zu einer sehr zeitintensiven Aufgabe werden.

Noch ist offen, welche Bedeutung der Nachlass für eine zukünftige Bewertung von Husserls Philosophie haben wird. Ein so umfängliches Werk wie das Husserls stellt jeden Versuch einer Gesamtbewertung vor schwierige hermeneutische Probleme. Es gilt ja nicht nur, sich in jeder Ecke dieses Werkes zurechtzufinden, sondern auch die Widersprüche und Inkonsistenzen, die sich zeigen, in die eine oder andere Richtung zu lenken - so z. B. bei einem Vergleich der Nachlassbände zur Phänomenologie der Intersubjektivität mit den von Husserl autorisierten, aber später kritisch beurteilten "Cartesianischen Meditationen".

Schon vor Jahren gab es sehr kritische Stimmen, die so umfängliche Veröffentlichung des Nachlasses betreffend. Ferdinand Fellmann hat bezweifelt, dass die vielen Nachlassveröffentlichungen wirklich so viel Neues bringen, wie ihre Herausgeber suggerieren, und rhetorisch gefragt, ob sie nicht vielmehr das "Scheitern von Husserls Programm" dokumentieren. Mit sehr spitzer Feder kritisiert Fellmann die Arbeitsweise Husserls: Die Konstitutionsanalysen führten zu "zahlreichen subtilen Unterscheidungen zwischen verschiedenen Akten und Schichten des Bewusstseins", deren Nachvollzug selbst für den aufmerksamsten und gutwilligsten Leser zu einer unmöglichen Aufgabe wurde. Fellmann will eine Klarheit, die die allzu feinen Unterschiede vernachlässigt. Distinktionen sollten so beschaffen sein, dass man sie nicht gleich wieder vergisst: Übergroße Genauigkeit vereitle die Einsicht.

Hat man sich einmal von der faszinierenden Art, in der Husserl seine Analysen durchführt, begeistern lassen, dann fällt es schwer, Fellmanns etwas polemisch vorgebrachtes Urteil zu folgen. Aber es bleibt ein Stachel: denn die hermeneutische Anstrengung, aus Husserls verschiedenen Arbeiten eine konsistente Theorie herauszupräparieren, führt zu der Gefahr, sich nur noch den Texten zu widmen. Phänomenologie wäre dann zu Philologie geworden. Damit aber wäre eine tiefe Entfremdung vom ursprünglichen Ansinnen der phänomenologischen Bewegung vollzogen, die einmal ausgezogen war, "zu den Sachen selbst" zu finden und das Bücherschreiben über Bücher zu überwinden, wie Helmuth Plessner es einmal formuliert hat.

Ulrich Melle, der langjährige Direktor des Husserl-Archivs in Löwen, hat die Schwierigkeiten, vor denen man angesichts des außerordentlichen Umfangs von Husserls Nachlass stand, sehr transparent beschrieben. Zurückblickend auf die jahrzehntelange Arbeit an der Erschließung, Transkription und Edition von Husserl Nachlass müsse "man zugeben, das die Edition einem verwinkelten Haus mit vielen unübersichtlich angeordneten Zimmern, Treppen und Gängen gleicht. Vieles wirkt improvisiert, nicht vorausschauend genug überlegt. Es gab eben zu keinem Zeitpunkt einen systematischen Plan. Editionsprojekte wurden bestimmt durch die philosophischen Interessen und Orientierungen der Mitarbeiter und Direktoren der verschiedenen Archive, durch institutspolitische Überlegungen, durch finanzielle Rahmenbedingungen etc. Die Manuskriptmassen waren einfach zu riesig und zu unübersichtlich, um sie in eine überzeugende systematische Anordnung bringen zu können." Dem editorischen Zirkel, der darin besteht, dass eine Rechtfertigung des editorischen Vorgehens erst nach Fertigstellung einer Edition möglich ist, kann keiner entgehen. Melle fragt auch, was mögliche Alternativen gewesen wären: Hätte man auf eine Edition verzichten sollen, bis der Nachlass vollständig transkribiert, erforscht, systematisch geordnet und die Bedeutung der Manuskripte erkennbar und abwägbar gewesen wäre? Wohl zu Recht vermutet er, dass es vollkommen unmöglich gewesen wäre, für ein solches Vorgehen die nötigen Mittel zu finden.

Melle verbindet seine Überlegungen zur Edition mit einer spekulativen Einschätzung der Bedeutung von Husserls Nachlass: "Da die von ihm veröffentlichten Schriften überwiegend einleitenden und programmatischen Charakter hatten und es Husserl trotz langjähriger, oft verzweifelter Anstrengungen nicht gelungen war, seine weit verzweigten phänomenologischen Deskriptionen und Analysen in einen kohärenten systematischen Zusammenhang zu bringen und in einer letztgültigen Form zu veröffentlichen, war Husserl selbst bereits um die Zukunft seines literarischen Nachlasses besorgt. Nur aus diesem Nachlaß wurde man die reichen Ergebnisse seiner konkret durchgeführten phänomenologischen Forschung kennenlernen, um diese dann korrigieren, verfeinern oder fortführen zu können."

In der Tat gibt es Belege dafür, dass Husserl seinem Nachlass und einer zukünftigen Rezeption eine wichtige Bedeutung beimaß. In einem Brief an Roman Ingarden schrieb er am 11.10.1933: "Die alte deutsche Universitat exist'iert' nicht mehr, ihr Sinn ist hinfort ‚politische' Univ'ersität'. Eine merkwürdige Zeit. Ob ich arbeiten kann, leben kann, als Nicht-A'rier' entnationalisiert etc.? Es war schwer genug, endlich habe ich es erzwungen, schon den 3. Monat arbeite ich wieder, fast in alter Energie, trotz des 75ten Jahres. An meinem Nachlass! Die Zukunft wird ihn suchen." Auch ist bekannt, dass Husserl seinen veröffentlichten Arbeiten gegenüber sehr kritisch war. Aber lässt sich daraus die These ableiten, dass Husserls eigentliches Werk der Nachlass sei? Aber bedeutete das wirklich, dass die Ergebnisse von Husserls Philosophie im Nachlass zu finden seien? In einer solchen Perspektive wurden die zu Lebzeiten veröffentlichten Werke dann zu bloßen Vorstufen. Trotz einer zunehmenden Bedeutung des Nachlasses hat sich diese Ansicht selbst bei der so umstrittenen Theorie der Intersubjektivität noch nicht durchgesetzt. Jeder Versuch einer irgendwie auf umfängliche Einbeziehung des Nachlasses angelegten Interpretation steht zudem vor dem Problem, dass trotz der immensen Fülle von Veröffentlichungen vor allem von den späten Manuskripten noch nicht alles transkribiert und veröffentlicht wurde - und man ja gerade von den späteren Manuskripten Korrekturen an den zu Lebzeiten veröffentlichten Arbeiten vermuten wurde. Sowohl bei Husserl als auch bei Scheler ist geplant, weitere Teile des Nachlasses zu digitalisieren und online zugänglich zu machen. Für die zukünftige Rezeption von beiden hatte das den enormen Vorteil, dass die Texte allen Lesern leicht zugänglich wären.

So unterschiedlich die Fälle Husserls und Schelers sind: Bei beiden bereichert eine Einbeziehung des Nachlasses das Verständnis ihres Denkens. Darüber sollte aber nicht vergessen werden, dass beide immer wieder versucht haben, die Nachwelt davon zu überzeugen, sie hätten das ursprünglich gemeinsam verfolgte Projekt einer "phänomenologischen Bewegung" jeweils als Solitäre entwickelt. So wurde die Forschung von ihren Helden in ganz bestimmte Bahnen gelenkt. Einer zu engen Orientierung an einzelnen Autoren sollte jedoch stets entgegenhalten werden, dass sich kein Denken ohne Auseinandersetzung, ohne Abgrenzung und ohne Aufnahme entwickelt. So wäre es bei beiden sehr sinnvoll, die editorischen Anstrengungen stärker in eine Erforschung des Umfeldes, in eine Art "Konstellationsforschung", wie sie Dieter Henrich für den Deutschen Idealismus durchgeführt hat, einzubetten und sich davon zu verabschieden, nachträgliche Traditionslinien zu etablieren, die häufig nur dazu dienen, einer Auseinandersetzung mit anderen Positionen aus dem Weg zu gehen.

Wie alle anderen Philosophen auch haben Husserl und Scheler nur dann eine Zukunft, wenn man ihre systematischen Beiträge zu systematischen Fragen in den Vordergrund stellt. Die gegenwärtige Renaissance der vielen anderen Phänomenologinnen und Phänomenologen der ersten Generation (Adolf Reinach, Edith Stein, Hedwig Conrad-Martius etc.) verdankt sich der Arbeit an konkreten Problemen der Sozialontologie, der Theorie der Gefühle etc. und nicht der hermeneutischen Anstrengung, die sich dem Denken eines Autors widmet. Es liegt jetzt an den Interpreten der frühen Phänomenologinnen und Phänomenologen, zu zeigen, dass sich z. B. bestimmte Analysen kollektiver geteilter Gefühle nicht einfach aus dem ontologischen und erkenntnistheoretischen Rahmen lösen lassen, in dem sie ursprünglich formuliert wurden, sondern nur adäquat zu verstehen sind, wenn man auch bestimmte phänomenologische Grundüberzeugungen annimmt. Der Buchstabe tötet - der Geist macht lebendig.

Matthias Schloßberger


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