Dragan Jakovljević

Erkenntnisgestalten und Handlungsanweisungen

Abhandlungen zur Erkenntnislehre und praktischen Philosophie

libri nigri Band 57

Rezension


Fehlbarkeit, Rationalität und Toleranz. Eine sanfte Revision Karl Poppers.

Besprechung der Neuerscheinung von Dragan Jakovljevic: "Erkenntnisgestalten und Handlungsanweisungen."

Dragan Jakovljevic ist Professor für Philosophie an der Universität von Montenegro. Einige seiner Werke sind nur in serbischer Sprache erschienen. Der Autor wurde bei Hans Albert in Mannheim promoviert und hatte auch Forschungsaufenthalte in Deutschland und Österreich, ist auf internationalen Kongressen präsent und einige deutschsprachige Werke und Beiträge sind einem größeren Kreis von Lesern bekannt. Er schrieb u.a.: "Leonard Nelsons Rechtfertigung metaphysischer Grundsätze der theoretischen Realwissenschaft", Frankfurt, Bern, u.a. 1987. Seine internationale Reputation wird in der Festschrift zu seinem 60. Geburtstag mit dem Titel "Denkformen", im Jahr 2013 dokumentiert, an der mehr als 20 Autoren aus zahlreichen Ländern mitwirkten. Die Schwerpunkte seiner Arbeiten sind Erkenntnistheorie, kritischer Rationalismus, Ethik und Religion.

Die Breite der Bereiche, mit denen sich der Autor im vorliegenden Buch beschäftigt, korreliert mit der Breite der dem kritischen Rationalismus nahestehenden Autoren, welche vor allem beim Gründer dieser Schule, Karl Popper, stark ausgeprägt ist. Verfasser verbindet Fragen der Erkenntnistheorie und der Ethik und verknüpft beide Ebenen mit Seitenblicken zur Theologie, wo er eine Bestätigung seiner Erkenntnisse findet. Das Buch ist dem Andenken an Karl Barth gewidmet, mit dessen Werk sich auch Popper befasst hat.

Den Eingang zum Buch von Jakovljevic schafft eine Abhandlung über die Frage der universellen Gültigkeit des für Karl Popper typischen Grundsatzes des Fallibilismus. Karl-Otto Apel stellt die These auf, dass die Anwendung des Prinzips der Fehlbarkeit auf die Theorie des Fallibilismus zu einer Paradoxie führt: Wenn der Fallibilismus auch selbst fallibel sein soll, dann ist er gerade nicht fallibel und umgekehrt. Hans Albert ist weniger rigoros und sagt, dass sich Problemlösungen bloß "im Prinzip" (18) als falsch erweisen können. Eine andere theoretisch relevante Aussage ist, "dass der Mensch bei der Lösung aller seiner Probleme fehlbar ist und sich daher irren kann und dass es auch keine Methode gibt, die ihn davor schützt." (15) Dies scheint freilich zu einer Position des erkenntnistheoretischen Skeptizismus zu führen. Aus zwei Gründen gibt es keine irrtumslose Erkenntnis: wegen der menschlichen Irrtumsanfälligkeit, sowie weil stets Skepsis gegenüber allen methodischen Verfahren angebracht ist. Also sind wir nach Albert der Erkenntnis der Wahrheit nie ganz sicher.

Wie antwortet der Buchautor auf dieses Problem? Er nimmt eine mittlere Position im Rahmen der, zwischen Apel und Albert geführten heftigen Polemik ein. Dabei erinnert er zunächst, dass Popper schon bei Xenophanes den Beginn seines Fallibilismus fand: "Selbst wenn es einem einst glückt, die vollkommenste Wahrheit zu künden, wissen kann er sie nie: es ist alles durchwebt von Vermutung ." (31) Mit dieser Erinnerung an Gedanken, die bereits in der Antike ausgesprochen wurden, wird der theoretische Hintergrund sichtlich erweitert und die Perspektive erfährt eine Öffnung. Jakovljevic will durch die Erweiterung des Horizonts tiefer auf die Herausforderung der Inkonstistenz des Fehlbarkeits-Grundsatzes eingehen, zumal Apels Feststellung einer Paradoxie ja eine Selbstaufgabe der fallibilistischen Position darstellen wurde Anders als Apel konstatiert er, dass es eher dann zu Widersprüchlichkeiten käme, wenn man von der Annahme ausginge, der Grundsatz des Fallibilismus sei selbst "unfehlbar". Auch ergibt sich für ihn ein klarer Bedarf danach, zwischen einem "konsequenten" (Albert) bzw. uneingeschränkten und einem revidierten (moderaten) Fallibilismus (vgl.: 41) zu unterscheiden und den letzteren vorzuziehen Zum Unterschied vom konsequenten Fallibilismus besagt der moderate Fallibilismus, dass es doch "Fälle" geben könne, die praktisch keiner Revision bedürftig seien. Der Unterschied der Positionen kommt daher, dass die "Möglichkeit des Irrtums" etwas anderes als die "fehlende Gewissheit" ist Doch Poppers Meinung, es gäbe "niemals" einen Grund zu glauben, dass eine Theorie wahr sei, hält Jakovljevic für übertrieben. Man muss zugeben, dass sein moderater Standpunkt der üblichen Wissenschaftspraxis eher gerecht wird als die rigorose kritisch-rationalistische Position. Obwohl die Praxis zeigt, dass sich jeder Mensch, also auch der Wissenschaftler irren "kann" nähert sich m.E. die Wissenschaft - im Zuge von Korrekturen früherer Irrtümer - "langfristig" - doch der (nie vollständig erfassbaren) Wahrheit.

Ganz in diesem Sinne gibt es offenbar auch revisionistische Reaktionen auf gewisse Meinungen Poppers. Zweifellos hat der große Wissenschaftstheoretiker die kritische Fähigkeit, eingefahrene Gleise des alltäglichen Wissenschaftsbetriebs auch wieder zu verlassen, strenge kritische Prüfungen maßgeblich gefördert und dies beflügelt den Fortschritt der Wissenschaft. Aber es finden sich auch Übertreibungen Poppers, welche einer Revision bedürfen. Jakovljevic bietet eine Position des revidierten bzw. moderaten Fallibilismus an, die er klar ausführt (43). Seine Position untermauert er auch durch eine Öffnung des Horizonts in einem Exkurs zur Theologie, genauer gesagt zum evangelischen Theologen Karl Barth, welcher für seine Skepsis bekannt war, inwieweit Gottes Wirksamkeit in der natürlichen Welt vom Menschen mittels der Vernunft erkannt werden könne. Hier wird er zitiert, dass kein menschliches Tun "den Anspruch erheben [könne], mehr zu sein als ein Versuch..."(41), was eben auch in den säkularen Einzelwissenschaften der Fall sei.

Die Wissenschaftstheorie orientiert sich bekanntlich primär an der Methodologie der Naturwissenschaften. Ist hier eine Sonderstellung der Geistes- und Sozialwissenschaften berechtigt? Schon der Psychologe Wilhelm Dilthey erinnerte an Francis Bacons Satz "natura [non, nisi] parendo vincitur" (49) (man besiegt die Natur nur indem man ihr gehorcht ), stellte aber fest, dass der Gegenstand der Naturwissenschaften ein anderer ist als jener der Geistes- und Sozialwissenschaften, in deren Zentrum das Seelenleben der Menschen steht: "Die Natur erklären wir, die Seele verstehen wir." (49) Dieser Problemstellung widmet der Autor eine eingehende und anregende Untersuchung.

Auch seine Untersuchungen zur Bedeutung der Rationalität im Rahmen der Wissenschaften haben eine ähnliche Ausrichtung. Jakovljevic hinterfragt deren Methodologie vor dem Hintergrund der Frage nach Sinn und Ziel der Wissenschaften. Geht es um den Wissensstand über Gegenstände, um die Formalisierung von Problemen oder um die Methodologie des Argumentierens? Gibt es ein übergreifendes Ziel des wissenschaftlichen Forschens? Für Popper genügt der Erkenntnisfortschritt selbst als Ziel; Der Autor erweitert die Sichtweise auch hier und rückt die Orientierung an die Pragmatik der Theorienbildung ins Blickfeld. Für Popper besitzt die Suche nach denkbaren Anwendungsfällen, an denen geltende Theorien scheitern, deshalb so große Bedeutung, weil es nur dadurch zum Erkenntnisfortschritt kommt. Jakovljevic rüttelt zwar nicht an dieser These, doch er ergänzte und erweiterte den Blick.

Während Popper überzeugt war, es gebe eine einzige zentrale Methode der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung, nämlich die "hypothetisch-deduktive" Methode (78), möchte Jakovljevic auch diesen methodologischen Monismus genauer untersuchen. Er weist zunächst darauf hin, dass Popper seinen Standpunkt eigentlich geändert habe: Während er früher die methodologische Sonderstellung der Sozialwissenschaft strikt abgelehnt habe, sei er später vom methodologischen Monismus abgewichen - und zwei weitere Fälle für das Abrücken von seiner ursprünglichen Position kamen noch dazu. Dem Verfasser kommt der Verdienst zu, im Rahmen der internationalen Popper-Exegese als erster einen umfassenden Beweis seiner Abweichung vom Ideal methodologischer Einheit der Wissenschaft vorgelegt zu haben. In der Auslegung der Wissenschaftsgeschichte kam es zu einem Disput darüber, ob sich die Entwicklung der Wissenschaft eher als eine Wirkungsgeschichte oder als eine "Gründegeschichte" rekonstruieren ließe: Besteht der Fortschritt der Wissenschaft darin, dass jeweils aus bisherigen Erkenntnissen gleichsam notwendigerweise eine neue Erkenntnis hervorwächst? Oder kommt der Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnisse eher dadurch zustande, dass bisherige Bahnen der Theoriebildung als nicht zielführend erkannt, aufgegeben und durch neue Wege ersetzt werden? Dabei gibt der Verfasser eine systematische Darstellung von der Konzeption sog. "normativer Genesen" innerhalb der Wissenschaftsgeschichte, die im Konstruktivismus der Erlanger Schule (Lorenzen, Mittelstrass) entworfen wurde. Jakovljevic zeigt, dass es "Phasen der Wissenschaftsgeschichte geben kann, in denen unterschiedliche Entwicklungsweisen möglich sind bzw. nebeneinander existieren." (122)

Der Verfasser beschäftigt sich auch mit Poppers Sozialphilosophie. Popper ist für seine These bekannt, dass es nicht die Aufgabe des Staates sein könne, andere Menschen glücklich zu machen. Betreffend Poppers Urteil über die Rolle des Glücks thematisiert Jakovljevic aber mit Recht die Übertreibung, die Popper dabei unterläuft. Zu Recht schätzt man zwar Poppers These, die vor allem gegen den Totalitarismus des 20. Jh. gerichtet war, dass "der Versuch, den Himmel auf Erden zu erreichen, ... stets die Hölle [erzeugt]" (143), womit er den Wunsch, den Menschen glücklicher zu machen und gewisse "ideologische" Richtungen, die dies forderten, verurteilt. Aber Popper argumentiert recht hart "Dieser Versuch führt zur Intoleranz, zu religiösen Kriegen und zur Rettung der Seele durch Inquisition" (ebd.) Interessanterweise erkennt Verfasser eine Parallele zwischen Poppers Anschauung und einigen wichtigen Aspekten der christlichen Weltanschauung - "etwa die Ablehnung des innerweltlichen Hedonismus" (146). Gut findet Jakovljevic Poppers Befürwortung eines "negativen Utilitarismus", also dass er die Aufgabe des Staates zur Reduzierung oder Beseitigung des Leids anderer Menschen anerkennt. Der Verfasser analysiert eingehend Poppers Begründung dieser unerforschten ethischen Position (für die es gewisse Andeutungen schon bei Moritz Schlick gibt), wodurch deren Sinn klar wird. Er hebt hervor, dass diese Auffassung eigentlich kaum als eine dem tradierten utilitaristischen Standpunkt strikt folgende zu verstehen ist, zumal sie breiter gemeint ist und den Raum für gewisse Bezüge zur deontologischen Ethik Kants offen lässt.

In mancherlei Hinsicht zeigt sich die Position Jakovijevic toleranter als jene Poppers, z.B. gegenüber dem Christentum, aber auch gegen milde, verhaltene Randerscheinungen der Intoleranz, sofern diese zu keinen von Popper befürchteten schweren Folgen führen. Der Verfasser wendet sich gegen die undifferenzierte Forderung Poppers nach einem energisch repressiven, staatlichen Vorgehen gegenüber Intolerante, die aber "zu keinen außerrechtlichen und gewaltsamen Mitteln greifen", weil dies "auf ein Außerkraftsetzen des Toleranzgedankens hinauslaufen" würde. (164) Er fordert, dass "die Meinungs.- und Gewissensfreiheit auch der Intoleranten geachtet wird" (165). Ein energisch repressives Vorgehen gegenüber jeglichen Intoleranten könne zur Diktatur führen und widerspreche einer pluralistischen Demokratie. Freilich ist auch die These legitim, dass es eine Grenze der Toleranz gegenüber radikal intoleranten, destruktiven Positionen geben müsse. Die Abrundung der Ausführungen des Verfassers zur Toleranzproblematik bildet eine eingehende Analyse über die Behauptung des Heidelberger Ägyptologen Jan Assman es gebe eine natürliche Disposition der monotheistischen Religionen zur Intoleranz Aufgrund einer detaillierten semantisch-ontologischen, aber auch sozialwissenschaftlichen und kulturgeschichtlichen Argumentation gelingt es ihm, diesen Vorwurf gegen den Monotheismus zu entkräften.

Jakovljevic' Werk ist an Fachkreise gerichtet und die Lektüre verspricht in vielen Details reichen Ertrag Es gelang ihm insgesamt in vorzüglicher Weise, das Wissenschaftsverständnis sowie die Interpretation von Toleranz nach Popper, aber auch das der konfessionellen Toleranz nach Jan Assmann produktiv weiterzuführen, wobei er über den bisherigen Stand der Diskussion hinaus in wertvoller Weise Türen öffnet, welche in dieser Buchbesprechung nur angedeutet werden können. Sein Urteil ist stets fachlich, maßvoll und tolerant nach allen Seiten Insgesamt kann die Lektüre dieser Beitrage zur Wissenschaftstheorie und Ethik allen an Philosophie interessierten Personen sehr empfohlen werden.

Prof. Erwin Bader, Wien


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