Dragan Jakovljević

Erkenntnisgestalten und Handlungsanweisungen

Abhandlungen zur Erkenntnislehre und praktischen Philosophie

libri nigri Band 57

Rezension


Der Band vereinigt in den letzten Jahren bereits erschienene Arbeiten mit einer bislang unveröffentlichten längeren Abhandlung. Der Autor steht der Schule des kritischen Rationalismus jedenfalls nahe, und dementsprechend stehen Autoren wie K. R. Popper, H. Albert und A. Musgrave bzw. Kritiker von maßgeblichen Thesen dieser Richtung wie K.-O. Apel im Zentrum des Interesses, aber auch eher außerhalb des üblichen Diskussionszusammenhangs dieser Schule stehende Denker wie O. Neurath, J. Habermas, J. S. Mill oder W. Dilthey werden berücksichtigt. Die thematische Bandbreite reicht von grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Fragestellungen über Methodenprobleme hin zu ethischen, religions- und sozialphilosophischen Themen und bietet damit einen ausgezeichneten Überblick über die Arbeitsgebiete des an der Universität von Montenegro lehrenden Philosophen.

Dass sich der Autor dem kritischen Rationalismus verpflichtet fühlt, besagt keineswegs, dass dessen wichtigste Repräsentanten bedingungslos verteidigt werden. Ganz im Gegenteil, die Kritik an wichtigen Thesen insbesondere des Schulgründers Popper ist der Ausgangspunkt mehrerer Texte. Der Tenor dieser wiederholt geübten Kritik ist, dass Popper immer wieder zu abstrakt und damit zu vereinfachend vorgeht, wichtige Unterscheidungen vernachlässigt und damit zu Einseitigkeiten neigt, die es auszugleichen gilt (damit nimmt Jakovljevi? Motive der bereits in den 1930er Jahren geäußerten Popper-Kritik von Neurath auf). Auch philosophische Thesen müssen sich in gewissem Sinn an der bunten und vielgestaltigen Wirklichkeit beweisen, und diesen Test besteht Popper, dessen Argumente nicht selten als (sei es absichtlich oder unabsichtlich gemachte) rhetorische Manöver entlarvt werden, oftmals nicht. An die Stelle einer "Verteidigung der reinen Lehre" tritt damit - bei Festhalten an den grundlegenden Intentionen - die Reformulierung grundlegender Standpunkte bzw. deren Binnenkritik.

Ersteres betrifft den Fallibilismus, womit wir beim ersten und längsten Text des Sammelbandes wären, dem bislang unveröffentlichten Aufsatz "Fehlbarkeit des Fallibilismus". Die These eines durchgängigen Fallibilismus gehört neben derjenigen des methodischen Rationalismus (alle Problemlösungsversuche sind kritischer Prüfung ausgesetzt, eine rationale Entscheidung zwischen verschiedenen Versuchen ist möglich) und der des kritischen Realismus (Erkenntnis bezieht sich auf eine subjektunabhängige Außenwelt samt Festhalten am klassischen Wahrheitsbegriff) zu den Kernbestandteilen des kritischen Rationalismus. Wie bei jeder These, die in irgendeiner Form eine Erkenntnisbeschränkung ausspricht, stellt sich auch beim Fallibilismus die Frage, ob diese These überhaupt ohne Selbstwiderspruch behauptet werden kann. Insbesondere K.-O. Apel hat schon vor einiger Zeit den Vorwurf erhoben, die These des Fallibilismus ("Alle Erkenntnis ist fehlbar") führe bei Selbstanwendung, also bei der Frage nach Fehlbarkeit dieser These selbst zu einer Paradoxie. Dieser Vorwurf ist der Ausgangspunkt für Jakovljevi?'s eingehende Untersuchung dieser These: Zum ersten ist festzuhalten, dass der Selbstwiderspruch sich nur bei Behauptung der apodiktischen Gewissheit (also Unfehlbarkeit) der Fallibilismus-These ergibt. Ein derartiger Anspruch wird jedoch gar nicht erhoben, auch ist diese These nicht als metaphysische Behauptung aufzufassen (wie es manche kritischen Rationalisten wie etwa Albert tun), sondern als sowohl logisch wie auch empirisch gut abgesichert. Logisch, da die Verneinung synthetischer Aussagen jederzeit widerspruchsfrei möglich ist; empirisch, da ausgehend von tatsächlichen Fällen des Scheiterns die These einfach eine verallgemeinernde Behauptung über menschliches Problemlösen ist. Die These selbst ist also fallibel, sie ist nicht selbstwidersprüchlich, ihre Falschheit wäre gezeigt, wenn man Einzelfälle ausfindig machen kann, in denen das Gewissheitsideal erreicht ist.

Der Vorwurf der Selbstwidersprüchlichkeit ist auch schon von daher fragwürdig, als sich die Diskussion auf verschiedenen Ebenen abspielt: die These des Fallibilismus ist eine Metathese, d. h. richtig verstanden besagt sie nicht, dass Erkenntnisse erster Stufe fallibel sind. Die These lässt durchaus zu, dass bestimmte Erkenntnisse irrtumssicher sind, was sie allerdings bestreitet, ist, dass diese Irrtumssicherheit (erster Stufe) selbst wiederum irrtumssicher erkennbar ist. Demgegenüber ist Apels Einwand noch eine Stufe höher anzusiedeln, er ist also auf der Meta-Metaebene angesiedelt.

Wie im eben Gesagten impliziert, heißt Fallibilismus auch keineswegs Fragwürdigkeit oder ähnliches, die Annahme der Falschheit von bereits gut geprüfte Hypothesen ist in der Regel einfach keine "lebendige" Option. Das bedeutet keine Aufhebung der prinzipiellen Fehlbarkeit, aber die Anerkennung des Unterschiedes, der darin besteht, ob eine Hypothese bisherige Falsifikationsversuche überstanden hat oder nicht.

Zusammenfassend und vereinfachend ist Jakovljevi?'s Argumentation als Plädoyer für einen moderaten, revidierten Fallibilismus aufzufassen: Für ihn bedeutet die Akzeptanz dieser These (wiederum im Gegensatz zu manchen kritischen Rationalisten) keine Anerkennung eines skeptischen Standpunktes. Erkenntnis ist erreichbar; auch wenn die Erreichung dieses Ziels prinzipiell nicht endgültig feststellbar ist, im praktischen Sinn kommt der Zweifel oft genug zur Ruhe. Der prinzipielle Fallibilismus ist auch nicht erschüttert durch etwaige Gewissheiten im Bereich des logisch-mathematischen Wissens oder durch unbezweifelbare transzendental-pragmatische Voraussetzungen. Die Gewissheit in diesen Bereichen, sofern eine solche überhaupt besteht, ist "selbstfabriziert" - damit meint der Autor, dass hier kein Wahrheitsrealismus vorausgesetzt ist; diese Typen von Wissen verlangen jedenfalls eine andere Behandlung als empirisches Wissen.

Für den Rezensenten ergeben sich weniger Kritikpunkte am hier kurz Dargestellten als eher der Verweis auf zwei offene Fragen, deren Behandlung freilich nicht nebenbei möglich ist. Zum einen nimmt der Autor klar einen induktivistischen Standpunkt ein. Besonders deutlich ist das, wenn er von der These des Fallibilismus als auch empirisch gut abgesicherte, von Einzelfällen aus generalisierte These spricht. Etwas weniger deutlich, aber grundlegender, ist die Inanspruchnahme induktiver Bestätigung bei der Unterscheidung "lebendiger" von "toter" Hypothesen: Eine lebendige Hypothese ist eine, die bisherige Falsifikationsversuche überstanden hat, aber sie ist ja eigentlich auch nur deshalb lebendig, weil wir induktiv schließen, dass das bisherige Scheitern von Falsifikationsversuchen ein Grund dafür ist, an das Scheitern von zukünftigen Falsifikationsversuchen zu glauben. Hier soll nicht eine Lösung des Induktionsproblems verlangt werden, aber hier liegt nun einmal historisch der Ausgangspunkt für die Entwicklung von Poppers Methodologie; eine Synthese von Induktivismus und kritischem Rationalismus scheint zu einem Verwischen der Konturen des letzteren zu führen, der Standpunkt droht unspezifisch zu werden.

Der zweite offene Punkt betrifft die Erlebnisaussagen, die als mögliche Instanzen irrtumssicherer Aussagen den Fallibilismus zu widerlegen drohen und nur kurz erwähnt werden. Auch dieser Punkt ist höchst umstritten, aber es scheint schwierig, solchen Aussagen, die den erlebnishaften Kern jeder Wahrnehmung ausdrücken, nicht eine privilegierte epistemologische Stellung einzuräumen. Andernfalls ist es schlicht unverständlich, warum überhaupt Erfahrung als Prüfinstanz für Theorien gelten soll.

Die nächsten drei Texte behandeln methodologische Fragen. "Gegenstand und Methodologie der Sozialwissenschaft" und "Methodischer Monismus im Rahmen des kritischen Monismus" ergänzen sich insofern, als in erstgenanntem Aufsatz gegen eine apriorische methodische Trennung von Natur- und Geisteswissenschaft, in zweitgenanntem Text gegen eine apriorische Festlegung auf einen methodischen Monismus argumentiert wird (wobei Jakovljevi? zu zeigen versucht, dass auch Popper selbst den offiziell vertretenen Methodenmonismus nicht durchhalten konnte). Methoden und Untersuchungsgegenstände stehen in dynamischem Verhältnis, überhaupt sind Methoden Wege zur Erreichung von bestimmten Zielen, die nicht immer gleich bleiben. Methoden sind also letztlich rein instrumentell als Mittel zur Erreichung von Zielen zu bewerten; damit verliert die Frage nach der einen wahren Methode ihren Sinn. Jakovljevi? empfiehlt die Anwendung verschiedener, konkurrierender Methoden und ihren Vergleich in Hinblick auf Fruchtbarkeit. Freilich, von einem Methodenanarchismus will der Autor sich abgrenzen: nur solche Methoden sind akzeptabel, die zumindest im Lichte etablierter Traditionen erfolgversprechend sind. Das leitet über zum Thema des nächsten Aufsatzes ("Normative Genesen oder Wirkungsgeschichten"), wo in Auseinandersetzung mit den Analysen von Jürgen Mittelstraß eine vermittelnde Position in der Auseinandersetzung von evolutionärer und revolutionärer Auffassung der Wissenschaftsgeschichte angestrebt wird. Hier verhindern Platzgründe ein Eingehen auf Details, aber zumindest kurz angemerkt sei, dass radikale "Revolutionäre" wie Kuhn oder Feyerabend sicherlich schon die oben genannte Forderung Jakovljevi?'s, wonach nur (wenn auch in schwachem Sinn) traditionsverbundene Methoden zulässig seien, als fortschrittshemmendes dogmatisches Vorurteil sehen würden.

Die letzten drei Aufsätze sind der praktischen Philosophie gewidmet. Während in "Die Intoleranzanschuldigung des Monotheismus" die seit Hume vielfach wiederholte These, wonach monotheistische Religionen zwangsläufig zur Intoleranz gegenüber anderen Weltanschauungen (oder Religionen) führe, als bloßes Vorurteil entlarvt wird, unterzieht "Die moderne Intoleranz innerhalb pluralistisch-demokratischer Gesellschaftsordnung" Poppers bekanntes Argument von den Grenzen der Toleranz einer kritischen Prüfung. Wenigstens etwas näher möchte ich abschließend auf "Poppers Idee eines negativen Utilitarismus" eingehen. Die Konzeption eines negativen Utilitarismus geht aus von einer grundlegenden Asymmetrie zwischen dem Anstreben von positiven Gütern (Glück) und dem Vermeiden von negativen Gütern (Leid). Für diese Asymmetrie spricht laut Popper vor allem ein epistemisches Argument, das er selbst durch seine allgemeine falsifikationistische Methodologie angeregt sieht: Die Feststellung von Leid bzw. von sozialen Umständen, unter denen Menschen leiden, ist relativ einfach, während die Diskussion einer idealen, d. h. das Glücksmaximum sichernden Gesellschaftsordnung auf prinzipielle Schwierigkeiten stößt. Eine positive Zielsetzung ist für Popper zwangsläufig mehr oder weniger ideologisch motiviert, sie involviert oft Einmischung in die Privatsphäre und beinhaltet ein Aufdrängen "höherer" Werte. Nicht zuletzt die geschichtliche Erfahrung lehrt uns, wohin derartige positive Zielsetzungen oft führen, eine Einsicht, die eindrücklich formuliert im berühmten Diktum Niederschlag findet, wonach der Versuch der Errichtung des Himmels auf Erden stets die Hölle erzeugt.

So intuitiv ansprechend Poppers Plädoyer auch sein mag, argumentativ gestützt ist dieses ausschließliche Primat negativer Zielsetzung laut Jakovljevi? aber sehr schlecht. Im Grunde ist diese Asymmetrie von Popper künstlich hergestellt, indem er konkretes Leid abstraktem Glück gegenüberstellt. Dagegen ist herauszustellen, dass es auch ganz konkrete Glücksziele gibt, über deren positiven Wert nicht weniger Konsens besteht als beim negativen Wert der Vermeidung konkreten Leids. Sicher warnt Popper zu Recht vor den Gefahren des Utopismus, aber das heißt noch lange nicht, dass nicht-utopische politische Ziele stets negative Ziele der Leidminderung sein müssen. So sind die auch von Popper gutgeheißenen schrittweisen Maßnahmen des modernen Sozialstaates sicher nicht ausschließlich an negativen Zielsetzungen orientiert.

Wie hier nur andeutungsweise gezeigt werden konnte, ist die Verzahnung der einzelnen Texte beträchtlich. Obwohl die Argumente zum Teil sehr detailliert ausgearbeitet sind, wird die philosophische Analyse nie Selbstzweck. Diese grundsätzliche Ausrichtung wird vom Autor selbst treffend festgehalten, der seinen Standpunkt beschreibt als den Versuch (S. 89f.), "im Sinne des Rufes des kritischen Rationalismus, eine Lehrmeinung zu sein, die möglichst nahe den konkreten realen Problemen des wissenschaftlichen Erkennens der Welt sowie des sozialpolitischen Lebens stehen will, und die philosophische Scholastik auf ein notwendiges Maß zu reduzieren sucht".

Johannes Friedl


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