Dragan Jakovljević

Erkenntnisgestalten und Handlungsanweisungen

Abhandlungen zur Erkenntnislehre und praktischen Philosophie

libri nigri Band 57

Rezension


Der montenegrinische Wissenschaftstheoretiker Dragan Jakovljevic legt unter o. g. Titel eine Sammlung von Aufsätzen vor, die sich zwar verschiedenen Themen zuwenden, durch die sich aber ein roter Faden zieht. Vf. könnte als ein "Moderator" der Wissenschaftstheorie bezeichnet werden, dessen Stopptafel immer dort aufleuchtet, wo sich auch in der rational und kritisch denkenden Wissenschaftstheorie Absolutheitsansprüche einschleichen. Treffend heißt es in der Beschreibung über den Autor (192): "Er vertritt einen moderaten ethischen Relativismus und ist weltanschaulicher Anhänger des Weges der Mitte (Sozialliberalismus, pragmatische Sozialdemokratie, soziale Marktwirtschaft, postsäkulare Gesellschaft)."

Das Buch beginnt mit einem Kapitel über den Fallibilismus, wobei im Zentrum die Frage steht, ob der Grundsatz des Fallibilismus ( GF), dass jede Aussage falsch sein kann, selbst auch falsifizierbar ist, welche Folgen also der GF in Selbstanwendung hat. Ist demnach GF widerlegbar oder nicht? Auf diese von Karl-Otto Apel und Hans Albert diskutierte Frage gibt Vf. die moderate Antwort: "›Einige Annahmen können sich grundsätzlich nicht als falsch bzw. als unfehlbar erweisen ‹(bzw. ›Es ist möglich, dass es Aussagen gibt, die prinzipiell nicht möglicherweise falsch sind ‹) - womit nicht festgelegt wird, dass eben GF selbst zu solchen Annahmen zählen muss." (24) Im letzten Abschnitt dieses Kapitels (vgl. 41) stimmt der Autor im Wesentlichen Karl Barth zu (dem das Buch im Übrigen gewidmet ist), wenn dieser sagt, dass ›kein menschliches Thun (…) den Anspruch erheben (kann), mehr zu sein als ein Versuch, also auch nicht die Wissenschaft. Systematische Theologie (…) wird immer ein relatives und ein irrtumsfähiges Denken, Forschen und Darstellen bleiben. Auch Dogmatik kann nach bestem Wissen und Gewissen immer nur fragen nach dem Besseren (…). ‹(Vf. zitiert aus: Karl Barth, Dogmatik im Grundriß, 7. unv. Aufl., Zürich 1987).

Moderierend sind auch die weiteren Kapitel des Buches. Im zweiten Kapitel wird die schroffe Entgegensetzung von Geistes- und Naturwissenschaften, was die Soziologie betrifft, dahingehend entschärft, dass die geisteswissenschaftliche Interpretation der Sozialwissenschaften verstanden wird als"(a) eine Pragmatik des Sinnes sozialwissenschaftlicher Sätze "und zugleich als" (b) Topik der Begründung methodologischer Orientierung bei der Theorienbildung für einzelne sozialwissenschaftliche Forscher, bzw. Gruppen von solchen." (71)

Im Kapitel "Methodologischer Monismus im Rahmen des kritischen Rationalismus. Zwischen Dekonstruktion und Erneuerung" zeigt Vf., dass Karl Popper bzgl. der Sozialwissenschaften von seinem ursprünglich monistischen "deduktiv- nomologischen" Erklärungsmodell (und der dazugehörigen Falsifikationsmöglichkeit der Erklärung) abrückt, und, wenn es um Auslegung des menschlichen Handelns geht," nur die Erklärungen im Sinne des ›Begreiflich-Machens von A‹, nicht aber auch im Sinne einer Antwort auf die Frage ›Warum A tatsächlich stattfand‹" liefert. (80)

Im nächsten Kapitel geht es um "Wissenschaftsgeschichte" und deren Interpretation als "evolutionistisch" oder "revolutionistisch". Um nicht einer zu rigiden rational verstehbaren Theoriengeschichte zu verfallen, gleichzeitig aber den Boden der Rationalität der Wissenschaftsgeschichte nicht zu verlassen, schlägt Vf. wieder einen moderaten Weg vor: "Die rationalen Voraussetzungen einer wissenschaftlichen Entwicklung brauchen also nicht immer zugleich ›alternativlose Voraussetzungen‹ sein. Es kann sich stattdessen gelegentlich auch um solche Gründe handeln, zu denen es Alternativen gibt bzw. geben kann, die aber als ›good reasons‹ aufgrund ihrer Plausibilität im Rahmen der jeweiligen wissenschaftsgeschichtlichen Situation als die begründende Instanz akzeptiert werden, obzwar sie nicht zwingend sind." (119)

Die nächsten drei Kapitel sind insofern von Bedeutung, als es nunmehr um Fragen geht, welche die menschliche Praxis betreffen, und zwar um solche Fragen, welche eng mit den konstitutiven Bedingungen der modernen Demokratie im westlichen Rechtsverständnis zusammenhängen. Das erste dieser drei Kapitel stellt die Frage, ob K. Poppers "negativer Utilitarismus" ( es gehe nicht um die Vermehrung von Glück, sondern um die Beseitigung von Leiden ) zu radikal ausfällt. Wieder versucht Vf. eine moderate Antwort: "Ich bezweifle aber, ob dies für jedes Leiden oder jede Ungerechtigkeit gilt. Andererseits zeigen uns die Erfahrungen aus der Zivilisationsgeschichte, dass es positive Ideale bzw.Wertvorstellungen gegeben hat und gibt, die auf große Teile der Bevölkerung eine starke Anziehungskraft ausüben. Und wenn sich die Frage stellt, ob die große Menge der Menschen sich eher für die Unterstützung der Bemühung um eine freie Gesellschaftsordnung mit materiellem Wohlstand, Chancengleichheit für alle und gleichen Grundrechten entscheiden wird oder demgegenüber für die bescheidenere Bemühung, die Frustration eines bis dahin privilegierten gesellschaftlichen Standes zu vermindern bzw. zu beseitigen, würde sich unter normalen Umständen die erste Alternative aller Wahrscheinlichkeit nach größerer Unterstützung erfreuen." (145)

Im darauf folgenden Kapitel wird der Toleranzbegriff zur Diskussion gestellt. Wiederum ausgehend von Poppers politischer Philosophie, inwieweit Intoleranz toleriert werden darf (das sog. "Paradox der Toleranz" ), kommt Vf. zu dem Schluss, dass Poppers Zweiteilung in "Tolerante" und "Intolerante" zu plakativ, klischeehaft und undifferenziert ist. Es gebe nach Vf. auch eine schlecht verstandene "Intoleranz der Toleranten". " Sie würde darin bestehen, dass ein rigides Verfolgen allgemeiner Ideologie der Toleranz dann dazu führt, alle Träger von grundsätzlich alternativen, also intoleranten Vorstellungen und Verhaltensweisen, insgesamt unterschiedslos nicht zu dulden, ihnen gegenüber pauschal keine gleichen Rechte anzuerkennen, sie zu unterdrücken und gegen sie mit staatlichen Mitteln (und also zugleich mit staatlicher Gewalt) vorzugehen." (164)

Das letzte Kapitel des Buches kreist ebenfalls um den Toleranzbegriff, diesmal um die Frage, inwieweit der Monotheismus sich im Vergleich zum Polytheismus einer Verabsolutierung und damit einhergehend einer intoleranten Haltung im Sinne von "Ausschließlichkeit" schuldig macht. Vf. arbeitet heraus, dass der Polytheismus, wie groß, aber dennoch bestimmt seine Götteranzahl auch sei, um nichts weniger ausschließlich ist als der Monotheismus. "Sowohl hinsichtlich der Anzahl sowie der eigentümlichen Natur von Göttern legt sich stattdessen jeweiliger Polytheismus stets auf die Behauptung der Existenz einer ganz bestimmten Götter-Anzahl und ihrer genauso ganz bestimmten Natur fest. … Demnach ist Polytheismus keineswegs epistemisch ›toleranter‹ als Monotheismus." (172) Mit solchen und weiteren Argumenten lehnt Vf. die Intoleranzanschuldigung gegenüber dem Monotheismus des berühmten Heidelberger Ägyptologen Jan Assmann ab, die inzwischen breiten Anklang innerhalb moderner Diskussionen gefunden hat. Unter anderem beruft er sich auch auf die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils sowie die Auffassungen von Johannes Paul II., und gibt eine differenzierte, z. T. soziologisch ausgerichtete und mehrere Wirkungsinstanzen berücksichtigende Interpretation des Phänomens konfessioneller Intoleranz, wie sich dieses im Rahmen von westlicher Kulturgeschichte gelegentlich manifestiert hat.

Kritische Bemerkungen:
Einer der besten und lehrreichsten Erträge im vorliegenden Buch liegt gewiss darin, aufzuzeigen, dass auch die Kritik anfällig für einen Absolutheitsanspruch ist, sei es in theoretischer, sei es in praktischer Hinsicht. Es ist besonders seit dem 19. Jh., genauer gesagt, seit dem Zusammenbruch des deutschen Idealismus, üblich geworden, die gesamte abendländische Denktradition in Frage zu stellen und Alternativen zu ihr zu entwerfen. Vf. macht darauf aufmerksam, dass auch der Kritiker auf der Hut sein muss, nicht denselben Fehler zu begehen, den er anderen vorwirft, nämlich sich selbstgerecht zu verabsolutieren. Zwar argumentiert er wissenschaftstheoretisch, was ihm gewisse Schranken auferlegt. Einflussreichen Philosophen wie Nietzsche, Marx, Heidegger, aber auch Naturforschern und Psychologen wie Darwin oder Freud, lässt sich wissenschaftstheoretisch nur teilweise beikommen. Carnaps Kritik am " nichtenden Nichts " Heideggers beeindruckt bestenfalls die Wissenschaftstheorie selbst, aber nicht die Philosophie insgesamt, welche in ihrem tradierten, klassischen Verständnis keine Wissenschaft im zeitgemäßen Sinn darstellt und auch gar nicht darstellen soll, sondern als Metaphysik einen Bereich sui-generis ausmacht. Und entgegen allen Totsagungen und Grabgesängen wird man auch in Zukunft nicht auf Metaphysik verzichten können, was Vf. auch nicht bestreitet.

Dies gilt angesichts der geistigen Entwicklungen im Abendland ganz besonders für die christliche Philosophie. Und hier kann unmöglich ein unbeschränkter Fallibilismus oder, damit verwandt, Skeptizismus gelten. Man darf nicht vergessen, dass der Skeptizismus immer nur ein nachträgliches Korrektiv darstellt, aber keine inhaltliche "Position" bezieht. Er kann immer nur nachträglich "zubeißen". Man kann nicht an etwas zweifeln, was nicht zuvor behauptet wird. Selbst die Logik Hegels, die von einer Identität von Sein und Nichts ausgeht, beginnt mit dem Sein und nicht mit dem Nichts. Und damit will gesagt sein, dass der Mensch in erster Linie Behauptungen hören will. Er wartet auf "Positionen". Nicht alle Philosophen und genauso nicht alle Wissenschaftler, die Behauptungen aufstellen, beachten die Befunde von Wissenschaftstheorie. Unbeschadet der Richtigkeit vieler kritischer Aussagen des Vf.s, kann die christliche Philosophie keinem "ethischen Relativismus" nachgeben. Die Botschaft Christi ist keine "relative". Die künftige Selbstbehauptung der abendländischen Zivilisation, die sich zweifellos wieder mehr auf ihre christliche Tradition wird besinnen müssen, kann sich nicht gleichzeitig bezweifeln. So kommen wir nicht weiter. Wenn der Zweifel nicht irgendwann wieder auf Grund stößt, werden wir verzweifeln. Wir brauchen Inhalte und nicht die ständige Versicherung, dass nichts sicher sei.

Diese Bemerkungen gelten allerdings nur indirekt für das vorliegende Buch, das selbst keinen Aufsatz über den ethischen Relativismus enthält, geschweige denn predigt. Die vorliegende Rezension argumentiert lediglich vom Standpunkt der christlichen Philosophie aus und bezieht sich darauf, dass der Autor, wie einleitend erwähnt, in der Kurzbeschreibung über ihn als ein Vertreter eines "moderaten ethischen Relativismus" charakterisiert wird. Abgesehen von dieser generellen Problematik sei aber auf jeden Fall festgehalten, dass dieses Buch eine Reihe von anregenden Analysen bringt, welche der Interpretation der Vernünftigkeit von wissenschaftlichen Entwicklungen im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte, der Toleranz und Intoleranz, der Spaltung wissenschaftlicher Rationalität in eine naturwissenschaftliche und eine geisteswissenschaftliche, des sog. "negativen Utilitarismus", sowie einer kritischen Beurteilung von Poppers und Alberts universellem Fallibilismus gewidmet sind. Insofern handelt sich um eine lesenswerte Publikation eines osteuropäischen Autors, der, obzwar in der Schule des kritischen Rationalismus ausgebildet(Promotion bei Hans Albert), hinsichtlich einiger wichtigen philosophischen Fragen aus guten Gründen auf eine gewisse Distanz zu entsprechenden Thesen Karl Poppers gegangen ist.

Rainer Schubert


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