Michaela Will

Pfarramt und Rabbinat

Identitätskonstruktionen im Dialog

Rezension


Unter dem Titel "Pfarramt und Rabbinat - Identitätskonstruktionen im Dialog" erschien Ende 2016 eine großangelegte Untersuchung, mit der die protestantische Pastorin Michaela Will im Fach Praktische Theologie an der Universität Hamburg promoviert wurde. Dieser in langen Jahren mit Unterbrechungen entstandenen Arbeit darf und muss mehr als großer Respekt gezollt werden - Hochachtung wäre der angemessene Ausdruck angesichts einer ebenso imponierenden wie innovativen Leistung, zumal Michaela Will durch ihre Analysen zugleich kaum von der Hand zu weisende Herausforderungen an das evangelische Pfarramt formuliert.

Auf fast 800 Seiten, mit allein 110 Seiten Literaturhinweisen und zahllosen Anmerkungen, wird ein Panorama entfaltet, das immer wieder andere Perspektiven ermöglicht und daher einer Besprechung Grenzen setzt. Als Beweggründe zur Verfassung der Untersuchung führt Michaela Will mehrere Motive auf, die ein Geflecht von Beziehungen darstellen: Da ist zum einen der unhintergehbare Hintergrund der Shoah und die Geschichte einer antijüdisch geprägten Theologie, da sind zum anderen die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion neu entstandenen jüdischen Gemeinden in Deutschland, die erst seit kurzem auch von in Deutschland ausgebildeten Rabbinern betreut und geleitet werden. Da ist weiterhin die zunehmende Säkularisierung, die zum Bedeutungsverlust von Kirche in Politik und Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft führt und daher Anfragen nicht nur an das Pfarramt als Pfarramt auslöst, zumal die Kirche sich mit erheblichen Schwierigkeiten bei der Besetzung von Pfarrstellen aufgrund mangelnder Nachfrage konfrontiert sieht. Schließlich verdankt sich die Arbeit der Mitwirkung von Michaela Will im Rahmen des Christlich-Jüdischen Dialogs und ihren Studien, Kontakten, Begegnungen und Gesprächen mit Rabbinerinnen und Rabbinern sowie Mitgliedern jüdischer Gemeinden, von denen sie berichtet (18 - 64). Der leitende Gesichtspunkt ist daher: Wie können die unterschiedlichen Identitätskonstruktionen von Pfarramt und Rabbinat in Dialog gebracht werden, ohne dass vorbelastete Vergleiche, geronnene Vorbehalte, überlieferte Bilder den Dialog erschweren oder unbewusst unterlaufen? Wie also ist ein Dialog des `Pfarramtes´ im Angesicht des `Rabbinats´ und auf Augenhöhe mit dem `Rabbinat´ möglich und für das Verständnis des `Pfarramts´ befruchtend?

Da Vergleiche, Analogien und Begriffsübereinstimmungen zwischen verschiedenen Konzepten zumeist problematisch sind und aufgrund der jeweiligen Vorverständnisse zu Verzerrungen führen und instrumentalisiert werden können, greift Michaela Will die Kategorie `Transdifferenz´ auf, die von dem Religionsphilosophen Ephraim Meir, basierend auf den Überlegungen von Buber, Rosenzweig und Lévinas, entwickelt wurde. `Transdifferenz´ bezeichnet eine Bewegung zwischen Ich und Nicht-Ich, dem Anderen, wobei sich diese Bewegung sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene abspielen kann. Der Vorgang vollzieht sich in drei Schritten: Zunächst muss sich das Ich auf den Anderen als Anderen einlassen, sich selbst transzendierend in die Welt des Anderen ´hinübergehen´, eintauchen und sie als `Anruf´ wahrnehmen. Mit der Antwort - zweiter Schritt - des Ich auf diesen `Anruf´ variiert sich das Ich, indem es sich selbst - `selbstdifferent´ - anders wird - `mir wird ganz anders´ -, den Anderen als Anderen in sich aufnimmt. Damit erst wird - dritter Schritt -, ohne dass die Differenz aufgehoben wird, die Kommunikation, der Dialog zwischen den Differenten ohne Beschädigungen möglich - `Transdifferenz´. So können sich eben auch Religionen wechselseitig begegnen und inspirieren. Was hier in geradezu sträflicher Weise verkürzt angedeutet ist, wird von Michaela Will ausführlich dargestellt (65 - 108). Zusammenfassend formuliert sie am Ende: "Transdifferenz lässt sich auch als Gastfreundschaft verstehen. Selbsttranszendenz bedeutet entsprechend, beim Anderen zu Gast zu sein. Selbstdifferenz heißt, den Anderen in das Selbst einzulassen. Das Ich bewegt sich zwischen den `Welten´." (654) So begibt sich Will also auf die spannungs- und windungsreiche Wanderung zwischen den Welten rabbinischer und pastoraler Identitäten und Identitätsentwürfen.

Der I. Hauptteil widmet sich im ersten Abschnitt religionsphilosophischen Perspektiven auf das Rabbinat, wie sie von den beiden einflussreichen Denkern Abraham Joshua Heschel (1907-1972) und Joseph B. Soloveitchik (1903-1993) entwickelt wurden. Heschels neo-chassidischer Entwurf wird von der Polarität von Haggada und Halacha bestimmt und der Rabbiner vor allem als Lehrer des Gebets und als empfindsam-mitleidender und gesellschaftspolitisch engagierter Prophet charakterisiert - so nahm Heschel in erster Reihe neben Martin Luther King am Marsch von Selma nach Montgomery teil und konnte einen solchen Protestmarsch als spirituelles Gebet, als `Gebet mit Füßen´ begreifen (111 - 171). Soloveitchik, ebenfalls im orthodoxen Kontext stehend, verankert das Rabbinat in der Halacha und sieht den Rabbiner als Lehrer der Thora, der im engen und emotionalen Kontakt mit seinen Schülern und der Gemeinde als Vorbild in der jüdischen Gemeinde lebt (171 - 239). Auf diesen Voraussetzungen baut Will den zweiten Abschnitt des I. Teils auf: Die Vielfalt der Rabbinatskonstruktionen, die in den um die Jahrtausendwende gegründeten Studiengängen des liberalen Abraham-Geiger-Kollegs an der Universität Potsdam und des modern-orthodoxen Rabbinerseminars zu Berlin wirksam sind. Manche der am Abraham-Geiger-Kolleg ausgebildeten Rabbiner verstehen sich vorrangig als Lehrer der Thora in weltoffener Auslegung, manche stellen die Seelsorge ins Zentrum ihrer Tätigkeit, manche legen den Schwerpunkt auf die Leitung der Gemeinde und deren Repräsentanz in der Öffentlichkeit (240 - 319). Beim Rabbinerseminar werden Rabbiner in erster Linie, orientiert an der Gestalt des Mose und in dessen Nachfolge, verstanden als geistige Führer der Gemeinden, die sich durch Thoragelehrsamkeit und ein vorbildlich-rechtschaffenes Leben nach den Geboten auszeichnen (319 - 363).

Nach diesem ausführlich-kenntnisreichen Besuch in der Welt des Anderen - `Selbsttranszendenz´ - , widmet sich Michaela Will im II. Teil der `eigenen Welt´ - `Selbstdifferenz´ - , indem sie die vielfältigen Konzeptionen im praktisch-theologischen Diskurs über das evangelische `Pfarramt´ thematisiert. Zunächst werden die Entwürfe von Michael Klessmann, Wilhelm Gräb, Isolde Karle, Ulrike Wagner-Rau, Jan Hermelink, Uta Pohl-Patalong und Hans-Martin Gutmann vorgestellt, die zwar im Anschluss an die Confessio Augustana zumeist die Kommunikation des Evangeliums, die Verwaltung der Sakramente und die Seelsorge ins Zentrum stellen, doch recht unterschiedlich auslegen. Während bei einigen diakonisches sowie gesellschaftspolitisches Handeln als weitere Dimension pastoralen Daseins betont wird, bleiben Fragen im Hinblick auf Leitungsaufgaben umstritten und kommen Überlegungen zum Judentum und Rabbinat kaum einmal vor (365 - 435). Unter der Überschrift "Vom als Priester lebenden Propheten über den Führer zum Heiligen zum von göttlichen Energien angerührten Geistlichen" beschreibt Will sodann umfänglich die Entwicklung der Pastoraltheologie von Manfred Josuttis - von der Pastoraltheologie als Handlungswissenschaft zur Pastoraltheologie im` Zeitalter der Lebensgefahr´ bis zur `Energetischen Pastoraltheologie´, die Pfarrer und Pfarrerinnen als von göttlichen Energien angerührte Geistliche und Handwerker begreift (436 - 490). Ähnlich ausführlich schildert Will die von Christian Grethlein vorgelegte Konzeption des Pfarramtes als explizit theologisches Amt, das theoretisch wie praktisch vor allem als Kommunikation des Evangeliums zu begreifen und auszuüben sei (491 - 537). Die Prominenz der Behandlung der beiden Pastoraltheologen Josuttis und Grethlein lässt schon ahnen, dass ihnen im Hinblick auf den abschließenden Teil eine besondere Rolle zukommen wird - Josuttis insbesondere im Hinblick auf Heschel, Grethlein in Bezug auf Soloveitchik.

Aufgrund der im I. Teil vorgestellten Rabbinatskonstruktionen lässt sich allerdings bereits im II. Teil bei den Pfarramtskonstruktionen festhalten, dass in diesen manche Stereotypen wirksam geblieben sind, die etwa die Lehre und das Handeln Jesu abgrenzen von einem Verständnis von `Gesetz´ und `Gesetzlichkeit´, wie es in der theologischen Tradition maßgeblich wurde, dem Selbstverständnis der jüdischen Tradition jedoch keineswegs entspricht. Diese Beobachtung neben anderen machen es erforderlich, nach dem Besuch in der `Welt des Anderen´ die eigene selbstkritisch zu befragen und nach `Inspirationen´ durch die `andere Welt´ zu suchen.

Den III. Teil schließlich stellt Will unter die Kategorie `Transdifferenz´ und lässt rabbinische und pastorale Identitätskonstruktionen in Dialog treten, ohne dass die Differenzen eingeebnet werden - `Anknüpfungspunkte, Differenzen und Inspirationen´ sind aufgerufen und benannt. Folgende Anknüpfungen mit Übereinstimmungen und ähnlichen Begriffsbestimmungen im Deutschland der Gegenwart lassen sich im Allgemeinen festhalten und können als `Brückenschläge´ gelten: 1. Die Vielstimmigkeit innerhalb der rabbinischen und pastoralen Konstruktionen, 2. die spiritual leadership im rabbinischen und die spirituelle Leitung im pastoralen Verständnis, 3. das Ideal einer Gemeinde von Thora-Gelehrten in jüdischer und professioneller Theologen in evangelischer Auffassung im Kontext eines allgemeinen Priestertums aller Gläubigen, 4. die Lehre der Thora und die Kommunikation des Evangeliums als Hauptaufgabe des Rabbinats und des Pfarramtes, 5. die Semicha und die Ordination als Kriterium rabbinischer und pastoraler Existenz, 6. die Bestimmung von Aufgaben in der Ausübung des Rabbinats und des Pfarramtes und 7. die Genderperspektiven auf rabbinische und pastorale Identitäten (547 - 581).

In der Konkretion allerdings zeigen sich trotz gleich- oder ähnlich lautender Begrifflichkeiten die Differenzen. In ihren Überschriften vermittelt Michaela Will davon bereits einen Eindruck. So heißt es etwa im Hinblick auf die Leadership oder die Leitung: "Rabbiner als Lehrer des Gebets - Pfarrer_innen als Medium der Heilskraft Gottes" (583) - das Gebet auf Gott hin (Heschel), das Medium von Gott her (Josuttis); ähnlich etwa: "Halachisches Leben der Rabbiner - Durch den Geist Gottes geprägte Lebensform der Pfarrer_innen" (584) oder: "Rabbiner zwischen Protestmarsch und Gebet - Pfarrer zwischen Kampf und Spiritualität" (599). Oder: Während die Semicha den Rabbiner als Lehrer der Thora in die Tradition der rabbinischen Väter und die Rechtsprechung ´ordiniert´, wird mit der Ordination der Pfarrer in sein Amt eingeführt. Bezogen auf die Rabbiner als Gelehrte und die Pfarrer_innen als Theologen konstatiert Will etwa "Lernen und Lehren der Thora - Lehren und Lernen als Modus der Kommunikation des Evangeliums" (609), deutlicher noch: "Lernen als einander Anhangen von Rebbe und Studenten - Theologische Expertise im symmetrischen Kommunikationsprozess" (602) und: "Personifizierung von Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit - Kommunikation des Evangeliums von Gott her" (616).

Im abschließenden Resümee skizziert Will einige `Inspirationen´, die von den Einsichten in die `Welten des Rabbinats´ her pastoraltheologische Theorie und Praxis konzeptionell, nicht allein additiv ergänzen und bereichern können wie etwa die Kommunikation des Evangeliums auf dem Hintergrund der Thora und damit zugleich zur Ermöglichung und Stärkung des Priestertums aller Gläubigen. So wird es `im Angesicht des Rabbinats´ für das Pfarramt in Zukunft nicht nur um die gesellschafts- und sozialpolitische Dimension des Pfarramts im Hinblick auf den Einsatz für die Erniedrigten und Beleidigten, die an den Rand Gedrängten und Verfolgten gehen, sondern auch um den energischen Protest und Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus im verantwortlichen Eingedenken an die Shoah. Deshalb auch wird das Pfarramt über den Dialog mit dem Rabbinat hinaus nicht um den interreligiösen Dialog herumkommen. Die zahlreichen Anregungen für weitere und neue Forschungsprojekte aufnehmend entwirft Michaela Will eine Skizze künftiger Pfarramtskonzeption unter den Stichworten "empfindsam, dialogisch, spirituell und politisch", wobei sie sich vom reformierten `Modell´ des dreifachen Amtes Christi als Priester, Prophet und König leiten lassen `Will´ (639 - 643).

Dem dicken und grundlegenden Buch wünsche ich zahlreiche interessierte Leserinnen und Leser nicht allein aus der theologischen Disziplin der Praktischen Theologie. Schließen möchte ich mit einem Zitat aus dem Geleitwort zum Buch von Ephraim Meir: Indem Michaela Will "sich auf die Wechselbeziehung von Judentum und Christentum stützt, erachtet sie Aspekte des Judentums als möglicherweise relevant für die eigene Religion. Dies erinnert an das Diktum der Sprüche der Väter 4,1: "Wer ist weise? Der von jedem lernt." (14)

Joachim Liß-Walther


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