Michaela Will

Pfarramt und Rabbinat

Identitätskonstruktionen im Dialog

Rezension


Mit ihrer 778 Seiten umfassenden Studie "Pfarramt und Rabbinat" präsentiert Michaela Will, Pastorin im Kirchenkreis Hamburg Altona-West, ihre leicht überarbeitete praktisch-theologische Dissertation der Universität Hamburg aus dem Jahr 2016.W. widmet sich einer bisher kaum bearbeiteten Fragestellung. Sie zeigt Möglichkeiten, das Verständnis des Pfarramts in der Praktischen Theologie durch den Dialog mit jüdischen Ansätzen über das Rabbinat zu bereichern.

Als theoretischen Rahmen der Arbeit wählt W. das Konzept der Transdifferenz, das der jüdische Religionsphilosoph Ephraim Meir in seinen beiden Büchern "Dialogical Thought and Identity. Trans-Different Religiosity in Present Day Societies" (2013) und "Interreligiöse Theologie. Eine Sichtweise aus der jüdischen Dialogphilosophie " (2016) unter Aufnahme tragender Gedanken von Emmanuel Lvinas und Gilles Deleuze für den interreligiösen Dialog entwickelt hat. Meir geht davon aus, dass sich Individuen in ihren Antworten auf das Angerufenwerden durch andere selbst transzendieren und im dialogischen Prozess mit der anderen Person Fremdheit und Differenz in sich selbst erfahren können. Identität versteht Meir als Selbst in Beziehung. Sie entsteht durch das wechselseitige Hinübergehen der einen zur anderen Person. In diesem Prozess der Transdifferenz ändern sich beide. Beide Seiten bauen "Brücken" zum anderen, nähern sich einander an, bleiben aber unterschieden. Sie bereichern sich gegenseitig. W. übernimmt auch Meirs Analogie zwischen individueller personaler Identität und Differenz einerseits und kollektiver Identität und Differenz andererseits. Sie verwendet den umstrittenen Begriff der Identität für das Selbstverständnis von Rabbinern und Pfarrern, die sie aus den Rabbinats und Pfarramtskonstruktionen der ausgewählten jüdischen und christlichen Denker ableitet.

Die Konstruktionen von Rabbinat und Pfarramt möchte sie miteinander ins Gespräch bringen, so dass vor allem Differenzen deutlich werden, aber auch "Brücken" und wechselseitige "Inspirationen ". Ansätze der Korrelation, der strukturellen Analogie, der "Vergewisserung", der Intertextualität und der funktionalen Betrachtung, mit denen andere christliche Theologen gearbeitet haben, verfehlen aus ihrer Sicht eine dem Selbstverständnis der jüdischen Religion angemessene Sicht und funktionalisieren die jüdische Religion für das eigene christliche Interesse (53.63 f.) Stattdessen intendiert sie, auf den "Anruf" des zeitgenössischen Rabbinats zu hören, jüdische Wurzeln des Pfarramts und Einflüsse auf das Pfarramt durch das Rabbinat zu berücksichtigen und so dazu beizutragen, das Selbstverständnis des Pfarramts zu erweitern. Ihre eigene Vorgehensweise erklärt sie als wertschätzend (100. 103), ihren eigenen Standpunkt als "zwischen" den von ihr dargestellten Pfarramtskonstruktionen (107).

Im ersten inhaltlichen Teil der Arbeit, den sie als Selbsttranszendenz versteht, untersucht sie eingehend die Rabbinatskonzeptionen der jüdischen Denker Abraham Joshua Heschels und Joseph Baer Soloveitchiks. Ihnen stellt sie Rabbinatsvorstellungen zur Seite, die im Kontext von Rabbinerausbildungen in Deutschland programmatisch verfasst wurden.

Im zweiten Hauptteil, den sie als Selbstdifferenz qualifiziert, präsentiert sie ausführlich die Pfarramtskonzeptionen von Manfred Josuttis und Christian Grethlein und erweitert den Horizont um Beiträge anderer evangelischer zeitgenössischer praktischer Theologen. Damit spannt sie den Bogen sehr weit. Methodisch erwartbar wäre in diesem Kapitel, dass die Überlegungen zum Pfarramt als Antwort auf jüdische Rabbinatskonzepte entwickelt würden. Die hier genannten "Anknüpfungspunkte" und "Brücken" zeigen zwar, wo Rabbinat und Pfarramt vor ähnlichen Herausforderungen stehen, aber nicht, dass und wie sich Pfarramtskonstruktionen durch Rabbinatskonzeptionen verändern und sich so selbst transzendieren.

Der wechselseitige inhaltliche Austausch der referierten Positionen erfolgt vielmehr im folgenden Kapitel. Dabei bringt W. Heschel und Josuttis sowie Soloveitchik und Grethlein miteinander in erhellende Gespräche. Als Ertrag dieser "Dialoge" hebt sie eine Vielzahl ähnlicher Funktionen der Rabbiner und Pfarrer hervor: Sie arbeiten und leben in und gegenüber der Gemeinde als spiritual leaders, als theologisch Gelehrte, als politisch Engagierte und als Lehrende. Parallele Problemlagen für beide Ämter werden aufgezeigt: die Entfremdung moderner Menschen von der jeweiligen religiösen Tradition, die mangelnde Vermittlung religiöser Traditionen an junge Menschen durch Elternhaus und Öffentlichkeit, die Spannung zwischen Gemeindeleitung und Gemeindedienst, in der Pfarrerinnen und Pfarrer sowie Rabbinerinnen und Rabbiner arbeiten. Differenzen werden vor allem in der mehr oder weniger hierarchischen Bestimmung der Beziehung von Rabbi bzw. Pastor und Gemeinde deutlich, in der stärkeren Betonung der Lehre und des Handelns im Rabbinat gegenüber der Betonung von Verkündigung und Kommunikation des Evangeliums im Pfarramt, im Vertrauen auf die Thora und das Gesetz gegenüber dem Vertrauen auf das Evangelium. Dieses Kapitel endet mit einem Ausblick auf das in der reformierten Theologie Calvins entfaltete dreifache Amt Christi: prophetisch-lehrend, priesterlich und königlich, das W. auf das Pfarramt übertragen möchte. Ob und wie dies innerchristlich-ökumenisch und jüdisch überzeugen kann, müsste sich im Dialog erst zeigen.

Zwar intendiert W. mit ihrem Ansatz eine Vermeidung von Kategorien der "Identität, Ähnlichkeit, Analogie und des Gegensatzes " sowie des Vergleichs, gibt aber selbst zu bedenken, dass das in der wissenschaftlichen Arbeit kaum möglich ist (646). Im Dialog-Kapitel verfährt sie selbst vergleichend, indem sie Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den referierten Konzepten herausstellt. Lebensweltliches und wissenschaftliches Urteilen bleibt auf bildhaftes Denken, auf Vergleiche und Bewertungen angewiesen und impliziert damit nicht notwendig Vereinnahmungen und Herabsetzungen einer Sichtweise.

Unbeschadet dieser Anfragen liegt das Verdienst der Arbeit W.s darin, ausgehend von jüdischen und christlichen Entwürfen einen Dialog über Pfarramt und Rabbinat begonnen zuhaben. Ihre Überlegungen führen zu Fragen, deren praktisch-theologische Bearbeitung im Dialog zwischenjüdischen und christlichen Perspektiven beide Seiten bereichern kann: Wie können Personen in der Gemeindeleitung geistliche Führung und Lehre, wie Spiritualität und gesellschaftliches Engagement überzeugend miteinander verbinden? Wie können sie eine Praxis des Betens und des vorbildlichen Tuns leben, wenn sie zugleich Lernende bleiben? Wie können sie ihre Gemeindeglieder zum allgemeinen Priestersein befähigen? Wie verhält sich ein halachisches Leben entsprechend der "Thora" und den "mizwot" zu einem geisterfüllten Leben entsprechend des "Evangeliums"? Wie können Ordinierte verantwortlich mit ihrer Macht umgehen und der Gemeinde dienen? Wie können sich Ordinierte gegenseitig unterstützen? Wo und wie finden Ordinierte Quellen zum Auftanken?

Die Arbeit ermutigt dazu und lässt darauf hoffen, dass Christen die Antworten auf diese Fragen zunehmend in Dialogen mit jüdischen Perspektiven suchen.

Paderborn/Hamburg Helga Kuhlmann


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