Severin Müller

Verwandelte Ferne

Phänomenologische Analysen zu realen und imaginären Mobilitäten

libri nigri Band 51

Rezension


Reise- und Bewegungsgeschichte, Karten- und Raumtheorie, Epistemologie der Mobilitätstechnologien als im wahrsten Sinne des Wortes weltschaffende Technologien, dazu eine Art Genealogie der schriftstellerisch-raumstiftenden Entwurfskunst - wozu brauchten wir eigentlich einen sich in zahllosen mehr oder weniger ergiebigen Fallstudien verausgabenden spatial turn, gab es doch parallel dazu und längst vorher schon die Phänomenologie? Sanft und kenntnisreich rückt der Augsburger Sozialphilosoph Severin Müller in seinem Buch über die sich wandelnde - wahrgenommene und im Modus der Vorstellung wirksame wie auch inszenierte - Wirklichkeit der Ferne die Verhältnisse zurecht, zugunsten einer dezidiert sinngeschichtlichen und nicht bloß empirischen Perspektive.

Müller tut dies, indem er zunächst das mehr oder weniger Imaginäre herausstellt, das jeglichem Anderswo anhaftet: Schon die frühen Kartenwerke des 16. Jahrhunderts bilden nicht einfach Raum ab oder einen Reiseplan, sondern dienen als "wegweisende Vergegenwärtigungsart des bislang Unbekannten, Anderen, Fremden und Fernen" (S. 31), und ebenso ist das Medium weiter Reisen - paradigmatisch: die Seefahrt - eine "nicht geheure Realität" (S. 22), auf die das Schiff in seiner technischen Konstruktion sich nicht nur einstellt, sondern regelrecht zu antworten versteht. Reisewirklichkeiten sind nichts Illusionäres, und ebenso sind Mobilitätstechnologien auf sehr real erwartbare Schwierigkeiten (Unwetter, Materialermüdung. Antriebs- und Steuerungsprobleme) hin ausgelegt. Beider jeweilige, zeittypische Form ist aber - auch - aufs unbekannt Fremde hin entworfen. Und wer das mit in den Blicknehmen will, bedarf einer Phänomenologie, die sich auf technologische und die Orientierung (Ziel, Zwecke, Strecke etc.) betreffende Gewissheiten wie auch auf (als möglich) Vorgestelltes, Imaginäres unwahrscheinlicher Art und auch Phantasien einstellt, ohne das eine vom anderen völlig zu trennen. Denn tatsächlich Gesehenes, bloß Vorgestelltes und mehr oder weniger von Fiktionen durchzogene Welterfahrung gehen bei der Kultivierung der Fernreise - als erfahrungs- und technikgeschichtliches wie auch literarisches Faszinosum - von Anfang an Hand in Hand.

Wer Müllers Buch zur Hand nimmt, findet damit in vielleicht verstörender Art und Weise die reale Reise (nebst den von dort mitgeteilten Erfahrungen) mit den bloßen "Vorstellungen" vom Reisen verquickt (die auf bloßer Mitteilung beruhen sowie aus dem, was man sei es vor einer Reise, sei es als jemand, der sich nur informieren lässt, auf der Basis von Reiseberichten imaginiert). Genau genommen hat man sogar in der Hauptsache ein Buch über modale Verhältnisse vor sich: Realität (oder auch "Faktizität", wie es bei Müller oft heißt), mögliche Wirklichkeiten (genau dies und nicht etwa das Irreale betrachtet Müller als die Grundbedeutung auch von "imaginär") und dann sind da eben die Horizonte einer - allerdings keineswegs losgebundenen, sondern im Reisen wie im erzählten oder auch im literarisch erfunden Reisen sich wieder mit realistischen Aspekten anreichernden und somit in Details hinreichend plausibel gefüllten - Phantasie.

Die drei großen Material-Kapitel des Buchs zeichnen daher zwar auch, nämlich im Innern der ersten beiden Kapitel, eine historische Line nach - von vormodernen Quellen und (Reise ) Verhältnissen über Formen der terrestrischen Automobilität bis zur Epoche der Luft- und Raumfahrt. Vor allem aber gehen sie gleichsam in einem Dreischritt von Quellen des Typs der Beschreibung möglicher Reisen (Kap. 1: "Zeit, Raum, conditio humana - Bestimmungen und Verhältnisse") über Quellen literarischer Art, die wissentlich das kaum Mögliche - etwa utopische Länder - imaginieren (Kap. 2: "Spielreite der Phantasie - Imaginationen von ferne und vollkommener Ort") hin zu radikaler Science Fiction, die auf konstruktiven Entwurf des Unmöglichen und imaginäre Technik ausgreift. Dies ist dann das Thema von Kap. 3: "Phantastik der Fahrt - Die Astronautik Stanislaw Lems. Auseinandersetzung mit Kosmos, Zeit und Raum". In der Kapitelfolge steigert sich der Schwung der Auseinandersetzung, und vielleicht könnte man auch sagen: der Bogen beschreibt einen Weg hin zu zunehmend grundsätzlicherem Vokabular.

Zunächst geht es ums Reisen selbst. mit Liebe zur Art des jeweils zutagetretenden Fremdheitsbezugs und nicht zuletzt zu verkehrstechnischen Details analysiert Müller Francesco Carlettis Reise um die Welt 1554, Sebastian Münsters Cosmographia von 1528, die "Ja auch mir dir über Meer fahren" will "und anzeigen die Stätt / Berg / Wildnussen / und andere ding!". Er rückt Mercator, Humboldt und die dann folgende Take off-Phase des modernen, selbstbewegten Verkehrs als (mit dem Motor und Eisenbahnsystem initiierte) "Produktion von Bewegung" in eine Analyse veränderter "Reisecarten" ein: komplexere Geräte, umgestaltete Arbeitsverhältnisse gehören zur modernen Mobilität sowie zunehmend von der Landschaft entkoppelte Topographien.

Parallel zu dieser kulturgeschichtlichen Linie skizziert Müller dann eine zweite: von John de Mandevilles aus dem 14. Jahrhundert überlieferten Reisebuch über Conrad Gessners Vogelbuch (mit dem Kapitel: Von den Greyffen) und Cyrano de Bergeracs Reise zu den Mondstaaten und Sonnenreichen (16. bzw. 17. Jahrhundert) sowie Étienne Cabets Voyage en Icarie (1842) bis hin zu Franz Kafkas Mann vom Lande skizziert er eine kleine Geschichte der literarisch imaginierten Ferne(n). Dies geschieht nicht in literaturwissenschaftlicher, sondern in phänomenologischer, gleichsam der Welthaltigkeit noch der Phantastik nachspürender Manier: Aus den Textanalysen wird eine Art Inventar der imaginären Möglichkeiten gewonnen. die eben gerade nicht sehr wahrscheinlich, dafür aber als Spiegel- oder Gegenwelten umso reizvoller, vielleicht befreiend oder dann doch auch, so Müller zu Cabet, totalitär und ideologisch wirken.

Das eigentliche Zentrum von Müllers Buch formen jedoch die Romane des polnischen Schriftstellers Stanislaw Lem. Nach einer systematischen Betrachtung insbesondere der "imaginären Technik" sowie Lems diese betreffenden Schilderungskunst werden von drei von ihnen bei Müller ausführlich - und mit ihnen die Frage nach Ferne, Fremdheit und Wirklichsein der erlebten Reise sowie des auf Reisen Erlebten behandelt. Den Roman Fiasko, in welchem eine perfekte, sympathische Raumfahrtmission ihren friedlichen Auftrag aufgrund lauter plausibler Entscheidungsschritte verfehlt, interpretiert Müller als Drama "scheiternde[r] Näherung und verweigerte[r] Begegnung". Anhand von Der Unbesiegbare arbeitet Müller insbesondere heraus, wie es Lem gelingt, eine in vielem radikal unmögliche Technik, eine "vitalisierter Technik" nämlich zu imaginieren, die zu einer regelrechten Technikevolution fähig ist. Und angesichts des berühmten Romans Solaris steuert Müller die "gebrochene Wirklichkeit" als entscheidendes Problem an, die "erschütterte Humanität" des reisenden Selbstseins - ein Thema, das Müller dann auch unter dem etwas enigmatischen Stichwort der "conditio humana" in einem kürzeren vierten Kapitel zum Schlussthema seines eigenen Buches erhebt.

"In der Astronautik Stanislaw Lems", so zunächst aber ein Zwischenfazit, das zeigt, wie Müller seine Untersuchung zu Mobilitäten tatsächlich in eine Art Geschichte - oder doch auch Anthropologie? - der Phantasie als Movens ganz generell für Wirklichkeit überführt, "stehen Bewegung, Ausspannung und Verspannung der Phantasie [...] neu zur Verhandlung, wird die conditio humana eigens ausgelotet, begegnen Grundgrößen und Bestimmungen von Verkehr und Fahrt in bezeichnend vorgeführter Fassung. Dies - so ist zunächst festzuhalten - in einem Kontext von Imagination, der nicht allein den Ausgriff der Phantasie von Seiten der eonditio humana antreibt, sondern der in eins die Ausspannung phantastischer Imagination herausfordert und bestimmt" (S. 261).

Konsequent wird also die erzählerische Linie, welche erstens die Mobilitätsentwicklung - Segelschiff, Eisenbahn- und Automotor, Flugzeug, Antriebsrakete, ein mittels siderischer Technik (Lem!) durch Zeitzonen gleitendes Raumschiff - und zweitens die berichtete und die entworfene, real mögliche Reise (Formen und Technik inklusive) mit der lediglich vorgestellten Phantasie-Reise der Science Fiction Literatur (auch lediglich "imaginärer Technik") zusammendenkt, fortgetrieben in eine Theorie der spezifischen Leistungen des Phantastischen hinein. Vorstellungskraft, das nur Ungekannte betreffend, und Imaginationskunst, die das Unmögliche zum bloß Unbekannten macht, sind demnach vom selben Stoff. - Müller weiß das wunderbar zu illustrieren. Was genau freilich folgt daraus für die Theorie?

So ganz klar wird das im Buch nicht. Namentlich das vierte, zusammenfassende Kapitel ("Näherung, Entfernung, Auseinandersetzung - Bewegungsarten und Imagination") fällt hinter den drei zuvor so viel Spannung aufbauenden und auch sehr gut geschriebenen Hauptteilen des Buches zurück. Müller schiebt zu vieles auf zu engem Raum zusammen und formuliert, etwa nach folgendem Muster, seine abschließenden Überlegungen sehr abstrakt: "Die gesicherte Produktion von Bewegung moderner Mobilität vergegenwärtigt, was der Umgang mit Nähe und Ferne in sich birgt, hervorbringt und erzeugt, worin und wie sich Antwort, Erwiderung und Auseinandersetzung als aktive Weisen humanen Weltbezug [sic!] konkretisieren. Die erbrachten Ordnungen vergegenwärtigen spezifische humane Potenziale. Sie weisen vorab auf eine essentielle Eigenheit der conditio humana: die Möglichkeit repräsentierenden und präsentierenden Vorstellens. In deren Aktionsfeld bilden und entfalten sich spezifische Möglichkeiten der Planung und Konstruktion, in ihnen Potenziale distinkt imaginierenden Entwurfs. Verbunden mit der Umsetzung der Potenziale durch Arbeit schreiben sie die conditio humana ein in mundane Realitäten" (S. 245). So bleibt die Überlegung in verdichteten, abstrakt gehaltenen Aussagen stecken, die ähnlich wie das Zitat zu "Bewegung, Ausspannung und Verspannung der Phantasie" (s.o.) zwar eine Leserichtung andeuten - Ausgriff auf kaum Mögliches, Entwurf des Unbekannten haben die conditio humana im Blick zu behalten und Phantasie ist ebenfalls nichts, was abgelöst von der conditio humana (und also: konkreten Realitäten) einfach hinausschießen sollte ins Weltfremde. Darin, dass sie diesen beiden Einsichten gerecht werden, beweist sich in Müllers Interpretationen die Qualität der Arbeiten von Lem. Zudem exemplifiziert er, wie weit Phantasie vorstoßen kann, gerade wenn sie alles, was sie ausmalt, mit einer geradezu wirklichkeitsversessenen Energie verdichtet: "Der Ausgriff Lemscher Astronautik vergegenwärtigt das Ausmaß des phantastischen Überschritts und dessen Bewegung ins Äußerste" (S. 263). Aber das philosophische Fazit, das in Sachen Möglichkeit von Realitäten, Imagination und Phantasie bleibt implizit und vergleichsweise diffus. Und dies, obwohl Müller "Realität" und "Wirklichkeit" zuweilen ähnlich wie Hegel absichtsvoll als getrennte Begriffe zu verwenden scheint (vgl. S. 96, 274, "Realität" bezeichnete dann einen objektiven Gesamtbestand von Welt, "Wirklichkeit' eine ggf. weltsprengende, Zukunft erst herbeiführende Aktualperspektive). - Freilich: will Müller dies sagen, ist dies gewollt? Auch das geht aus dem Text nicht hervor.

Müller erläutert sein Vorgehen mit Blumenberg und Waldenfels: Was Fahrt, Reise, Verkehr bewegt. ist "Ferne in Nähe zu verwandeln, darin Fremdes in Bekanntes zu überführen, Differentes in Vertrautes einzubetten, Bekanntem zuzuordnen und anzugleichen (S. 235).

Er verwandelt deren philosophische Vorlagen in eine Arbeitssprache ganz eigener Art - aber nicht in eine Sprache für Folgerungen. Erkennbare Thesen treten hingegen abseits der Frage nach Imagination und Phantasie hervor. So unterlegt Müller seine Mobilitätsgeschichte mit einer eher unterschwelligen These vom allmählichen Schwinden der Spuren von Arbeit am bzw. im technischen Artefakt. Das gelte für die Schritte in die Reisearten von heute - und erst recht bei Lem fehlten die Aspekte Arbeit (wer baute die perfekten Raumschiffe?) und auch Sozialität (warum erfährt man nur von männlichen Technikern und Wissenschaftlern?) völlig (vgl. 171 ff.). Ebenso scheint sich hinter der Formel "conditio humana", nicht weniger als eine (aber nicht genau spezifizierte) Anthropologie zu verbergen; lediglich Plessners "Positionalität" wird einmal kurz gestreift (vgl. S. 244) - hier hätte man gern gewusst. Gegen den Vorwurf, die Arbeit sei "ungenannt", nähme die Rezensentin Lem überdies gern aus ausdrücklich in Schutz - man denke etwa an den ersten Abschnitt des bei Müller besprochenen Romans Fiasko, der, und zwar auf dem unwegsamen, lediglich dem Rohstoffabbau dienenden Jupitertrabanten Titan, in Gestalt zweier heruntergekommenen, auch konkurrierenden Tagebau-Siedlungen zwar kurz, aber sehr wohl das wortkarge, einsame Elend einer den interstellaren Handel bedienenden Ingenieurs-Arbeiterkaste portraitiert. Lems Thema mag über dies womöglich gar nicht generell der Mensch der Zukunft sein, sondern eben - und zwar in allen faktisch ja tatsächlich gegebenen Einseitigkeiten, der Typus, der das Soziotop Wissenschaft prägt: der einsame, auf technische Missionen, auf dienstliche Ziele und auf Forschung festgelegte Mann.

So erscheint der Schlussteil insgesamt nicht als der stärkste Teil des Buchs. Dennoch handelt es sich um ein phänomenologisches Glanzstück - und ein Leseabenteuer, das fast selbst...? Genau: einer Reise gleicht.

Petra Gehring, Darmstadt


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