Markus Ophälders

Konstruktion von Erfahrung

Versuch über Walter Benjamin

libri nigri Band 40

Rezension


Methodisch setzt die bereits im Jahe 2001 auf Italienisch publizierte Studie von Markus Ophälders genau an diesem Punkt ein. Ihm ist der Begriff der Erfahrung "das Zentrum von Benjamin Denken" nicht als ein "für die philosophische Reflexion grundlegender Begriff", sondern als Darstellung eines Problems: Zu verstehen sei die "Abwesenheit" von Erfahrbarkeit (15). Benjamins Beschreibung dieses Verlustes als des substantiellen Kerns kulturellen Lebens entspricht dabei sehr genau dem Prosaisch-Werden des Romantischen, das Jäger so ungläubig referiert, und das generell als Prozess der Entzauberung verstanden werden kann. Anders als Jäger aber arbeitet Ophälders dann mit diesem Darstellungskonzept weiter, und es ist auch nicht zufällig, dass er sich dabei an den zentralen Stellen auf Hölderlins Nüchternheitskonzept beruft, das bei Jäger als Benjamin'sches Interpretament so hartnäckig ignoriert wird. Prosa zu schreiben und zu denken aber "stellt eine reflexive und aufgeklärte Vorgehensweise dar" (72), an der Benjamin antimythologisch und deontologisch festhält. "Was einst in der Nachahmung magisch war, hat sich heute in die Sprache und in die Schrift gerettet; es hat sich sozusagen säkularisiert [...]." (49) Die hier erinnerte und schon bei Benjamin zentrale und wiederum problematische Interpretationskategorie der Säkularisation steht seit langem im Mittelpunkt der Forschung, so auch bei Ophälders. Er fasst sie so, dass die mediale Überführung der Erfahrung in ihre Konstruktion weder die Restitution eines Unmittelbaren noch das Ergebnis einer kausalen Reproduzierbarkeit ist (vgl. 56). Die Veränderungen, die Benjamins Werk in den dreißiger Jahren ausmachen und die für Jäger unvorstellbar und nicht nachvollziehbar bleiben, finden so ihre Erklärung. Benjamin hält trotz aller Kafka'schen Krisen und Untergänge an einem Gelingen von individuellem und kollektivem Glück als Anspruch auf Rettung fest, weil das Gelingen eben weder als Restauration des Ursprünglichen noch als Kausalität eines Fortschrittprozesses visiert wird. Dieses kritische Erfahrungskonzept in dem Kapitel "Bild, Dialektik, Geschichte" (53-66) entwickelt zu haben, ist das größte Verdienst dieser Studie.

Zu ihrem eigenen Problem wird, dass sie es nicht bei dieser sachlichen Stillstellung von falschen Dialektiken belassen will, sondern "emphatisch" (vgl. 12) und damit in einer ähnlich problematischen Tonlage wie bei Jäger vermeint, mit Goethe faustische Urszenen (vgl. 66) und mit Rilke versöhnende elegische Dimensionen einholen zu können (vgl. die exponierten Zitationen auf den Seiten 83 und 139). Benjamins Konstruktion der Erfahrung wird so schließlich nicht politisch, sondern ästhetisch konstituiert, was ihrer letzten methodischen Disposition widerspricht. Dieser politischen Dimensionierung nehmen sich - allerdings auf extrem unterschiedliche Weise - die Aufsätze der beiden Sammelbände an.


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