Markus Ophälders

Konstruktion von Erfahrung

Versuch über Walter Benjamin

libri nigri Band 40

Rezension


"Wenn Benjamin die Möglichkeit ins Auge gefasst hat, dass man sich, wenn es sein muss, anzuschicken habe, Kultur zu überleben, dann ist das Ziel dieses Überlebens gewiss nicht die in den letzten Zeiten über die Welt hereingebrochene Barbarei. [...] An die Stelle eines lebenswerten Lebens [...] hat sich - um mit Mephistopheles zu reden - das 'Papiergespenst der Gulden' mit seiner globalen Gleichschaltung gesetzt, und damit hat sich das Problem, das mit einem emphatischen Begriff von Erfahrung gestellt wird, nicht nur nicht gelöst, sondern es hat sich vielleicht sogar noch verschärft." (S. 14) - mit diesen Worten unternimmt Markus Ophälders seinen Versuch, die Bedeutung des Erfahrungs- und somit auch des Geschichtskonzepts Walter Benjamins zu analysieren und in einen kritischen Zusammenhang zu unserer heutigen Welt zu stellen. Walter Benjamin ist auch und gerade für den heutigen Geschichtsforscher von größtem Belang, und nicht nur als ein beliebiges Element der langen Kette abendländischer Geistesgeschichte, sondern als ein Denker, dessen Aussagen auch im 21. Jh. noch Gewicht haben. Auch die Alte Geschichte ist davon betroffen, und zwar wesentlich mehr als auf bloß anekdotische Weise wie etwa in Benjamins Rundfunkarbeiten (Teil 2), wo er das allmähliche Aussterben des "alten" Berliner Menschentyps bedauert, der wie folgt umschrieben wird: "Da sieht man in der Nähe des Brandenburger Tores eine dicke Obstfrau vor ihren Körben sitzen, und neben ihr stehen ein besserer Herr nebst Begleitung, Fremde, wie man ihnen ansieht, die sich in Berlin nicht auskennen. ‚Liebste Frau', sagt der Herr und zeigt auf die Victoria auf dem Brandenburger Tor, ‚können Sie mir nicht sagen, was das da oben auf dem Tor für eine Puppe ist?' - Antwort: ‚Ja nu, wat wird det sind. Alte römische Geschichte, Kurfürsten von Brandenburj, siebenjährijer Kriej, det is et!' - ‚Ach so', sagt der Herr, ‚na ich danke auch sehr." Gerade Benjamins in seiner Arbeit "Über den Begriff der Geschichte" formulierte Erkenntnis, dass Geschichte immer Gegenstand einer Konstruktion ist, trifft umso mehr auf die alte Geschichte zu, als hier der teils dramatische Mangel an Quellen mehr als anderswo regelmäßig zu weltanschaulich bedingten Behelfskonstruktionen aufgrund individueller und kollektiver Erfahrung zwingt, deren spätere Verwerfung jedes mal auch das gesamte Antikenbild ins Wanken geraten lässt. In diesem Sinne sei daher gerade dem Althistoriker Markus Ophälders' kleine Studie "Konstruktion von Erfahrung" empfohlen, welche zunächst in italienischer, nun dankenswerterweise auch in deutscher Sprache verfügbar ist, und eine ebenso anregende wie tiefgründige Reflexion nicht nur über Benjamin selbst, sondern seinen gesamten geistesgeschichtlichen Kontext, allen voran Kafka und Nietzsche, darstellt, und aktueller ist denn je, denn: "Die Welt ist ohne Kopf und das Bewusstsein hat keine Welt; der moderne Begriff der Wirklichkeit und seine technische Anwendung haben de facto alle Wirklichkeit aus der Welt vertrieben, welche immer virtueller und damit illusorischer wird. Die Wirklichkeit, welche nach der Zerstörung der Metaphysik übriggeblieben ist, hat sich eine Wirklichkeit vor der Wirklichkeit geschaffen, ebenso wie sich die Metaphysik eine Welt hinter der Welt geschaffen hatte. Diese zweite Wirklichkeit ist die Phantasmagorie der ersten, und nimmt alle traditionellen metaphysischen Eigenschaften des Ewigen, des Wahren, des Guten oder des Schönen für sich in Anspruch, der metaphysischen Tradition gegenüber verkehrt sie sie jedoch in ihr Gegenteil." (S. 138) Dem ist wohl nichts hinzu zufügen.

David Engels


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