Peter Volek (Hg.)

Husserl und Thomas von Aquin bei Edith Stein

AD FONTES
STUDIEN ZUR FRÜHEN PHÄNOMENOLOGIE Band 2

Rezension


Edith Stein, von 1916 - 1918 wissenschaftliche Mitarbeiterin Edmund Husserls und begabte Rezipientin der phänomenologischen Methode, beschäftigte sich - in kritischer Absetzung von Husserls " idealistischer Wende " und wohl auch motiviert durch ihre Konversion 1922 - zunehmend mit den Schriften des Thomas von Aquin; 1932 publizierte sie eine Übersetzung der Untersuchungen über die Wahrheit von Thomas von Aquin. Hinter dieser Auseinandersetzung stand das Interesse, die scholastische und die phänomenologische Methode zu verbinden - ein Aspekt des Denkens von Edith Stein, der bisher eher wenig Aufmerksamkeit fand. Die Tagung " Husserl und Thomas von Aquin bei Edith Stein ", die im November 2011 an der Katholischen Universität in Ružomberok ( Slowakei ) durchgeführt wurde, griff dieses intellektuell-biographische Spannungsfeld in der Arbeit Edith Steins auf; die Vorträge der Tagung sind im vorliegenden Sammelband dokumentiert.

Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz weist auf die Relevanz des Augustinus bei Edith Stein hin, die dazu führt, " dass die aristotelisch-thomasische Seinslehre von der Personlehre abgelöst und davon ausgehend der Sinn des Seins als Sinn des Personseins entfaltet " ( 27 ) wird. René Raschke kritisiert eine " anachronistische Verfahrensweise " ( 36 ) in der 240 Besprechungen Interpretation der Schriften Steins, welche spätere Entwicklungen in ihr frühes Schaffen hineinprojiziert; kennzeichnend für Steins frühe Philosophie sei aber nicht eine " Abgrenzung oder Absetzung von Husserl " ( 49 ), sondern eine weitere Entfaltung der Phänomenologie auf dem Hintergrund neuerer Denkimpulse. Barbara Simoni? macht in ihrem englisch verfassten Beitrag auf die Bedeutung der " Einfühlung " - der Thematik von Edith Steins Dissertation - aufmerksam: " Her conclusion is that empathy is not perception, representation or a neutral positing, but sui generis " ( 62 ). Simoni? arbeitet das Potential der von Edith Stein analysierten Fähigkeit zur " Einfühlung " heraus, das nicht zuletzt in der Offenheit für Fremdes besteht: " Empathy does not close us in our own world; rather it encourages the development of sincerity, understanding and openness towards other people and leads away from premature condemnation, criticism and labeling " ( 71 ). Eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Individuationsprinzip in Edith Steins Untersuchungen bietet Francesco Alfieri OFM; von Duns Scotus her kommt Alfieri zum Ergebnis, " dass Edith Stein keine Bestimmung des Individuationsprinzips gutheißen kann, die auf thomistische Weise auf quantitative Zustände der Materie zurückführen kann [ … ], und dass daher die Auslegung nicht gutgeheißen werden kann, nach der Edith Stein in ihrer Darstellung des Individuationsprinzips einen thomistischen Weg geht " ( 102 ). In eine ähnliche Richtung geht Christof Betschart OCD, der Edith Steins Verständnis menschlicher Individualität untersucht und festhält, dass Stein bereits in ihrem Frühwerk " zum Verständnis einer starken, wesentlichen Individualität der menschlichen Person " ( 115 ) gelangt, welches auch durch ihr Studium der scholastischen Philosophie keine Änderung erfuhr. Peter Volek fragt nach dem Verständnis des freien Aktes im frühen Werk Edith Steins und kommt zum Ergebnis, dass Stein zwar noch deutlich von der phänomenologischen Methodik Husserls beeinflusst war, aber wie Thomas von Aquin " eine Substanzontologie beim Träger des freien Aktes voraussetzt " ( 133 ). Anna Jani reflektiert in ihrem Beitrag den " Übergang von der phänomenologischen Denkmethode zur scholastischen Philosophie " ( 157 ), der für Edith Stein nicht als Ablöse, sondern als Integration und Transformation gedacht war: " Letzten Endes versucht Stein eine solche allgemeine Metaphysik zu bilden, die auf dem System der Phänomenologie aufbaut, aber zugleich mit der Seinsfrage die Husserlsche Phänomenologie übersteigt " ( 168f. ). Jozef Uram bezieht die Phänomenologie Husserls auf die Frage des Glaubens und der religiösen Suche und stellt fest: " Edmund Husserl hat durch seine phänomenologische Methode mir ihrem objektiven Charakter mehrere seiner Studenten zum christlichen Glauben gebracht " ( 172 ) - dies allerdings nicht durch explizit religiöse Fragestellungen, sondern durch die Art und Weise, wie die Phänomenologie an Fragen des Lebens und Erkennens herangeht. József Kormos greift den pädagogischen Beitrag Edith Steins auf und spricht in diesem Zusammenhang von einer " Erziehungsphilosophie " bei Stein. Kormos verbindet den Gedanken einer " metaphysischen Einstellung " des Menschen mit der Aufgabe der Pädagogik: " Indem wir die Erziehung als zielorientierten Prozess, als › Steigerung ‹ und Entwicklung der wesentlichen Merkmale des Menschen interpretieren, ist es unausweichlich, die Erziehung mit den metaphysischen Prinzipien zu verknüpfen. Also bestimmt die Pädagogik nicht nur praktische, tägliche Ziele, sondern auch Prinzipien, Werte und langfristige Ziele " ( 202 ). Auch Elisabeth Donabaum spricht eine pädagogische Thematik an und arbeitet die " Einfühlung " als " ein wesentliches pädagogisches Paradigma " ( 238 ) heraus; in besonderer Weise geht sie auf Steins Untersuchung über den Staat ( 1925 ) ein und zeigt die ungebrochene Systematische Theologie 241 Aktualität dieser Überlegungen auf. Es kann, so Donabau, " als Auftrag der Pädagogik betrachtet werden, sich im Dialog mit der heranwachsenden Generation und mit DenkerInnen wie Edith Stein der Aufgabe neuer Lebensbedingungen zu stellen, um so den Menschen in Zukunft ein Leben in Frieden zu ermöglichen " ( 239 ).

Die Beiträge der - überwiegend jungen - Philosophinnen und Philosophen in diesem Band geben einen Einblick in eine spannende Phase der Entwicklung der Phänomenologie und in einen Knotenpunkt von philosophischer Reflexion und biographischer Auseinandersetzung, der über das Beispiel von Edith Stein hinaus von Interesse ist. Für Kenner der Phänomenologie wird dieser Band eine bereichernde Lektüre darstellen; mit Blick auf jene, die die phänomenologische Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts als bloß philosophiehistorische Angelegenheit wahrnehmen, hätte die Vermittlung der Problemstellung im Werk Edith Steins mit gegenwärtigen philosophischen Debatten durchaus noch intensiver ausfallen können. Schließlich ist die phänomenologische Rekonstruktion scholastischer Philosophie, wie sei Edith Stein unternahm, ein intellektuell kreatives Unternehmen, das auch für aktuelle Diskurse anregend sein kann.

Franz Gmainer-Pranzl


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