Gabriel von Wendt

Existenz und Bestimmung

"Das Werden des Menschen im Denken Romano Guardinis"

libri virides Band 24

Rezension


"Christ wird man, man ist es nicht von Geburt an" Der bekannte Ausspruch Tertullians (Apologeticum, 18) lässt sich in einem gewissen Sinn auch allgemeiner umwandeln: Mensch ist man nicht einfach so, man wird es. Dem Verständnis des Werdens des Menschen in den Werken des italienisch-deutschen Religionsphilosophen Romano Guardinis (1885-1968) nachzugehen, war Ziel der im Jahr 2015 am Päpstlichen Athenäum Regina Apostolorum zu Rom eingereichten Lizenziatsarbeit, die der Verfasser Gabriel von Wendt ein Jahr später unter dem Titel Existenz und Bestimmung in Buchform veröffentlicht hat.

Die Studie gliedert sich in fünf Kapitel. Während das erste einleitenden Charakter hat, bilden die Kapitel zwei und drei den Hauptteil der Arbeit. Kapitel zwei (21-37) entwirft eine Phänomenologie des menschlichen Werdens. Anhand vier zum Thema einschlägiger Schriften Guardinis (Die Lebensalter, Grundlegung der Bildungslehre, Die Begegnung, Der Weg zum Mensch-Werden) stellt von Wendt drei Prinzipien heraus, die sich phänomenologisch am Menschen erkennen lassen: erstens eine Spannung zwischen Wandel und Selbigkeit, "denn das Werden ist weder vorgegeben (determiniert), noch beliebig (absolut frei)" (34), zweitens eine Spannung zwischen Innen und Außen, "zwischen Selbst und anderem)" (ebd.), drittens existiert der Mensch in einer Spannung von Freiheit und Bestimmung. Zu Letzterem ist zu sagen, dass "das Werden in Freiheit eine Aufgabe und im Falle seines Gelingens Verwirklichung " ist (35). Dass die drei genannten Prinzipien die Grundpfeiler der Auffassung Guardinis über das menschliche Werden bilden, ist die zentrale These der Studie (ebd).

Kapitel drei (38-70) widmet sich einer Hermeneutik des menschlichen Werdens im Anschluss an Guardini. Hermeneutik meint in diesem Kontext eine Analyse und Relecture der drei bereits herausgearbeiteten Prinzipien Wandel - Selbigkeit, Innen - Außen und Freiheit - Bestimmung anhand weiterer Schriften Guardinis. Auch wenn nach Ansicht des Verfassers die Gefahr besteht, "in eine gewisse Redundanz zu verfallen" (38), wird das Untersuchungsfeld insofern geweitet, da nun die drei Prinzipien vor allem mit den anthropologischen (Haupt-)Werken Guardinis in Bezug gebracht werden. Es handelt sich um die Schriften Welt und Person, das nur auf Italienisch veröffentlichte Manuskript Der Mensch (L'uomo) sowie Freiheit - Gnade - Schicksal.

Kapitel vier (71-78) ist überschrieben mit Werden und Gegensatz. Es bringt den Gedanken des Werdens mit der bei Guardini berühmten Gegensatzphilosophie in Zusammenhang, die dieser in Vorformen bereits 1914 publiziert hat und die später von ihm in Versuchen zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten ausgearbeitet wurden. Stichworte dieses Gesprächs sind die auch in der Gegenwartsphilosophie diskutierten Konzepte der Intersubjektivität, der Spannung von Wesens- und Wahlfreiheit sowie der Teleologie (76-78). Kapitel fünf (79-88) skizziert den Ausblick auf eine Dialogik mit einem Existenzialismus und einem Determinismus, welche vom Verfasser als die "extremen Positionen der Werdefrage" (79) identifiziert werden. Zwischen beliebiger Existenz und determinierter Bestimmtheit zeigt sich dem Menschen nach Guardini eine Bestimmung (87), die letztlich auf Gott verweist: "Wahrlich werden kann der Mensch nur in der Begegnung mit Gott. Sein Leben ist so bestimmt, dass er nur in Gott Vollendung finden kann - im Himmel wie auf Erden. […] Dieser Bestimmung gemäß ist der Mensch auf bestimmte Weise, muss aber auch erst werden" (88).

Gabriel von Wendts Studie ist prägnant im Sinne der Themenstellung gegliedert und systematisch aufgebaut. Unnötige biografische oder zeitgeschichtliche Exkurse werden vermieden. Dass zum Teil mehrfach in Fußnoten betont wird, was alles nicht Gegenstand der Untersuchung ist (14, 62, 79), dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass es sich um eine akademische Abschlussarbeit handelt. Alle wichtigen Werke Guardinis werden vom Verfasser behandelt. Allerdings fällt auf, dass nur sehr eingeschränkt auf Sekundärliteratur zu Guardini verweisen wird. Eine gewisse methodische und inhaltliche Engführung ist es nach Meinung des Rezensenten, dass in von Wendts Arbeitzahlreiche begriffsphilosophische Lemmata praktisch ausschließlich aus dem von Walter Brugger zuletzt 1976 herausgegebenen Philosophischen Wörterbuch entnommen sind. Erwähnt sei wenigstens, dass bereits im Jahr 2010 eine vollständig überarbeitete Neuauflage dieses Fachlexikons erschienen ist.

Auch wenn ein prozesshaftes Verständnis der menschlichen - und auch der christlichen -Existenz bereits bei früheren Autoren (Irenäus von Lyon, Bonaventura, Luther, Goethe u.a.) betont wurden, stellt Guardinis philosophische Anthropologie des Mensch-Werdens ein wichtiges Korrektiv gegen ein allzu statisches Verständnis des Mensch- Seins dar. Den prozessualen Charakter der menschlichen Existenz im Anschluss an Guardini in der vorliegenden Form konzise herausgearbeitet zu haben, ist ein großes Verdienst von Wendts. Ferner ist die Studie gut als Einführung in das Denken des großen Religionsphilosophen geeignet. Aktuelle Anschlussmöglichkeiten des Gedankens des Werdens etwa an die Prozessphilosophie Whiteheads oder an das in der theologischen Ethik diskutierte Prinzips der Gradualität sind durchaus gegeben.

Raphael Weichlein


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