Gabriel von Wendt

Existenz und Bestimmung

"Das Werden des Menschen im Denken Romano Guardinis"

libri virides Band 24

Rezension


Neues von und zu Romano Guardini
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Im Schicksalsjahr 1945 war Guardini bereits 60 Jahre alt und wurde aus seinem Allgäuer "Exil" im winzigen Dörflein Mooshausen zum Wintersemester nach Tübingen berufen. "Neuwerdung" war das Thema nach der grundstürzenden Zerstörung der zwölf braunen Jahre. Schon in Mooshausen, auf ein Zimmer von wenigen Quadratmetern beschränkt, hatte Guardini um 1943 begonnen, die verheerenden geistigen Vorgänge der Zeit zu beleuchten, um nach dem tiefliegenden Grund der Zerstörung zu fragen. Daraus entstand der Aufsatz "Der Heilbringer in Mythos, Offenbarung und Politik", 1946 erschienen und in dem neuen Sammelband mit dem lakonischen Titel "1945. Worte zur Neuorientierung" wieder abgedruckt (III.). Noch zwei andere Kapitel des Bandes sind bereits bekannt, allerdings nur in älteren Auflagen vorhanden: "Die Vorsehung" (IV.) und "Die Waage des Daseins" (V.) - bemerkenswert als die überhaupt früheste Gedenkrede auf die Weiße Rose im November 1945 in München. Daneben sind versammelt vier wichtige, bisher ungedruckte Aufsätze: "Memminger Triduum: Recht und Unrecht - Die Wahrheit - Die Vorsehung" (I.); "Wahrheit und Lüge" (II.); "Zum Beginn der Vorlesungen in Tübingen" (VI.), und: "Unsere Verantwortung für die Sprache" (VII.). Die Beiträge stammen aus dem Nachlass Guardinis in der Katholischen Akademie in München und sind sorgfältig und kundig bearbeitet von dem Regensburger Fundamentaltheologen Alfons Knoll (einem Rottenburger Diözesanen), der selbst über Guardini arbeitet und zu Dissertationen ermutigt.
Besonders hervorzuheben sind die Illustrationen, die der Fotograf Max Oberdorfer beigesteuert hat, darunter ein früher Plakatentwurf des bekannten Graphikers Otl Aicher aus Ulm (des späteren Ehemanns von Inge Aicher-Scholl) mit einem markanten Umrisskopf Guardinis. Hans Maier steuert ein kundiges Vorwort bei.

Guardinis Gedanken stehen im offenen Raum von 1945, an der Schwelle des kommenden Neuanfangs. Bedeutsam ist, dass er sich überwiegend an junge Menschen richtet im Umkreis von Memmingen, Ulm und Tübingen, an Träger der Zukunft also. Von daher ist die Sprache, wie überwiegend bei ihm, einfach, bildhaft, von Beispielen beleuchtet, im Redeton gehalten. Inhalt aller Darlegungen ist das Durchschauen des Vergangenen in seiner Lüge - und nicht minder in seiner Pseudo-Religiosität, die in der Führerfigur des "Heilbringers" gipfelte und unglaublich vernichtende Energien entband. Guardini ist damit der erste, der nicht vorwiegend politische, soziologische und wirtschaftliche Ursachen für den Erfolg des Nationalsozialismus ausmachte, sondern dessen religiöse Grundierung herausstellte. Eben dies war die gefährlichste Waffe, weil sie die tiefsten menschlichen Kräfte - sogar des Lebensopfers - ansprach.
Hilfreich klärend arbeitete Guardini die Gegengewichte heraus: an erster Stelle die Wahrheit, der die Sprache zu folgen hat; die christlich geschulte Unterscheidung von gut und böse; den Mut, die Freiheit und die Verantwortung jedes Einzelnen. Freilich gedeihen solche Haltungen nicht aufgrund eines allgemeinen Humanismus, der solchem Druck nicht notwenig standhalten müsste, sondern aufgrund der Bindung an Christus. "Christlich begründet ist die Tiefe und Differenziertheit der abendländischen Seele. (...) Der Mensch der christlichen Zeit hat dem antiken gegenüber eine Dimension des Geistes du der Seele mehr; eine Fähigkeit des Empfindens, eine Schöpferschaft des Herzens und eine Kraft des Leidens, die nicht aus natürlicher Begabung, sondern aus dem Umgang mit Christus hervorgehen. (...) Wenn sich aber Europa ganz von Christus löste - dann, und soweit das geschähe, wurde es aufhören zu sein... Von hierher gewinnt das Geschehen der vergangenen Jahre eine besondere Bedeutung." (S. 113ff)
Wer könnte gegenwärtig ein Buch schreiben mit dem Titel "2015"? Und könnte darin auch die schicksalhaften, (pseudo-)religiös unterlegten Energien der Geschichte offenlegen (so im "Islamischen Staat")? Solch klärender Worte bedürfte es auch heute. Guardinis Leistung war es, von 1920 an über Jahrzehnte hinweg Energien des "Neuwerdens" bei der deutschen Jugend zu entbinden. Nach 1945 finden sich viele Namen aus der früheren Jugendbewegung im politischen Aufbruch der jungen Bundesrepublik (auch eine "Rothenfelser Erklärung" der CDU!). Vom folgenden Satz fällt unabsichtlich ein Licht auf diese Leistung: "Die Bedeutung der Heiligen aber (...) liegt darin, das in ihrem Dasein der Vorgang der Neuwerdung, bei uns überall verhüllt und gestört, mit einer besonderen Deutlichkeit, Energie und Verheißungskraft durchdringt." (S. 142) Der Satz ist um so stärker in der Aussage, als Guardini - worüber noch zu berichten sein wird - seit kurzem in eine Untersuchung einbezogen wird, die mit seiner Seligsprechung enden könnte (sollte!). Er gehört in der Tat zu denen, die in ihrem Dasein, in ihrem Denken am Vorgang der Neuwerdung mitwirkten.

An das Stichwort "Neuwerdung" schließt sich unmittelbar eine kleine Arbeit an. Die universitäre Rezeption Guardinis verstärkte sich seit einigen Jahren deutlich, sowohl in Deutschland, vornehmlich an den Universitäten Dresden und Regensburg, als auch in Italien, hier vor allem an den päpstlichen Universitäten Roms. So hat Gabriel von Wendt, ein junger Priester der "Legionäre Christi", an der Päpstlichen Universität Regina Angelorum 2015 eine Arbeit vorgelegt, die sich einem Grundmotiv von Guardinis Denken widmet, dem "Werden des Menschen". Der Autor hat an derselben Universität auch im November 2015 eine Tagung angeregt, die viele internationale Studierende versammelte.
Tatsächlich ist Guardini im Tiefsten ein Denker des Werdenden, der Apokalypse: des Sich- Eröffnenden. Ihm stellt sich der Mensch in Wagnis und Verantwortung, mit Erraten, mit Schaffen. Welt ist nicht einfach "fertig", Dasein wird erst voll erfaßt im. Charakter der Begegnung: des gegenseitigen Herauslockens von Welt und Mensch und der gegenseitigen Befruchtung.
Dieses Werden ist aber nicht einfach die Leistung des Menschen, erst recht nicht einfach nur Ausdruck seiner unsicheren Stellung in der Welt. Werden ist Anruf, und zwar zur Freiheit; Werden ist Auftrag, Imperativ und Wille des Schöpfers, der sein Geschöpf stark und schaffend sehen will. Gabriel von Wendt arbeitet bei aller Kürze die Phänomenologie, die Hermeneutik und die Gegensatz-Spannung des menschlichen Werdens im Blick Guardinis heraus. Er fast die Dynamik des Menschen in die Gegensatzpaare Wandel und Selbigkeit, Außen und Innen, Freiheit und Bestimmung. Dabei wird sichtbar, daß aller Wandel zugleich in der Selbigkeit der Person wurzelt, alle Freiheit in der eigenen Bestimmtheit und Bestimmung, grundsätzlicher: alles Werden im gegebenen Sein. Von daher nehmen sich postmoderne Selbstkonstruktivismen ärmlich aus, potenzlos und ortlos.
Anzumerken ist, daß Wendt auch auf die bisher nur italienisch (!) übersetzte große Arbeit Guardinis der 1930er Jahre zurückgreift, die unter dem Titel "Der Mensch" noch im Nachlaß in München liegt. Der Anstoß sei aufgegriffen, das inhaltsreiche Typoskript in Bälde auch in der deutschen Urfassung herauszugeben! Wie überhaupt noch manches schlummert, das jetzt ans Licht treten sollte, wie bereits der neue Sammelband "1945" zeigt.

Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz


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