Bernd Jaspert

Kirchengeschichte verstehen

Evangelische Kirchenhistoriker des 20. Jahrhunderts in Deutschland

Rezension


"In einer aufschlussreichen Studie "Zur historiographischen Funktion von Apg 12" hat Knut Backhaus die These vertreten, das besagte Acta-Kapitel stehe für "[d]ie Erfindung der Kirchengeschichte" (K. BACKHAUS: "Die Erfindung der Kirchengeschichte. Zur historiographischen Funktion von Apg 12", in: "Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft" 103 [2012], 157-176). Mit der "endgültige[n] Transformation der binnenjüdischen Verkündigung in der Ekklesia aus den Völkern" sei eine "entscheidende Zäsur der urchristlichen Geschichte" (a. a. 0.,158) und der Anfang der Geschichte der Kirche aus Juden und Heiden bezeichnet, sodass man sagen könne, Lukas schreibe "[z]ur ‚Halbzeit' der Apg" (a. a. 0.,171) "das erste Kapitel der Kirchengeschichte" (a. a. 0.,176). Wie immer man die Backhaus'sche These einer lukanischen Erfindung der Kirchengeschichtshistoriographie in Apg 12 exegetisch zu beurteilen hat: Wer - und sei es auch nur anfänglich - wissen will, was Kirchengeschichte ist, muss einen Begriff von Kirche und Geschichte sowie von dem Verhältnis haben, das zwischen den beiden Bestandteilen des Kompositums waltet, und er muss sich zugleich Rechenschaft über die Beziehung geben, in welcher der jeweilige Historiograph oder die jeweiligen Historiographen zu den kirchengeschichtlichen Themen stehen, die sie behandeln. Daraus wird rasch die Erkenntnis erwachsen, dass eine Geschichte der Kirchengeschichtsschreibung nötig ist, um Kirchengeschichte zu verstehen.

Der evangelische Theologe Bernd Jaspert, der akademisch v. a. durch Studien zum Mönchtum im Allgemeinen und zur "Regula Benedicti" im Besonderen sowie als Hg. des Briefwechsels von Rudolf Bultmann - dem er in Studienzeiten als Adlatus diente - und Karl Barth bekannt geworden ist, versucht zum Verständnis der Kirchengeschichte durch insgesamt 115 Porträts von evangelischen Kirchenhistorikern und einigen Kirchenhistorikerinnen (Fairy von Lilienfeld, Ingetraut Ludolphy, Luise Abramowski, Leonore Siegele-Wenschkewitz) beizutragen, "die im 20. Jahrhundert in Deutschland gewirkt haben und inzwischen gestorben sind" (9): "Noch lebende Kirchenhistoriker(innen) [...] werden nicht porträtiert." (ebd.) Dargeboten werden mehr oder minder knappe Beiträge zu Biographie und Werkgeschichte der überwiegend im Hochschulbereich tätig gewesenen Gelehrten in chronologischer Reihenfolge beginnend mit Karl Sell (1845-1914), der Kirchengeschichte vorzugsweise als Frömmigkeitsgeschichte betrieb, und endend mit dem früh verstorbenen Maronschüler Jörg Haustein (1957-2004), dessen Beitrag zur Kirchengeschichtlichen Methodik nach Ansicht des Vf.s im Wesentlichen darin bestanden hat, "dass er für die Zeit der Reformation und des neueren Katholizismus ebenso wie für die Ökumene im 20. Jahrhundert gezeigt hat, wie ergiebig die Quellen in ihren Aussagen sind, wenn sie mit einem bestimmten erkenntnisleitenden Interesse auf kirchen-, theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Zusammenhänge hin befragt werden und wenn der Kirchenhistoriker beziehungsweise die Kirchenhistorikerin bereit ist, disziplinenübergreifend zu arbeiten, also auch die Erkenntnisse der Geschichts- und Sozialwissenschaften in seine/ihre Überlegungen einzubeziehen" (429f). Falsch ist diese Bemerkung zu Haustein gewiss nicht, aber doch in einer Weise unspezifisch, die signifikant ist für .das Darstellungs- und Argumentationsverfahren in J.s gesamtem Werk.

Was die Festlegung des Zeitrahmens der Darstellung betrifft, so sind nach J.s Auskunft die Jahre "des hauptsächlichen Wirkens des Betreffenden maßgeblich" (9), wenngleich manche der Dargestellten, wie J. einräumt, "auch schon wichtige Werke im 19. bzw. auch noch im 21. Jahrhundert" (ebd.) vorgelegt hätten. Dass die Kriterien der getroffenen Auswahl nur bedingt eindeutig sind, gibt der Vf. bei der Verfahrungsbegründung unvermeidbarer Ausschlüsse selbst zu erkennen. Ein Mann wie Joachim Staedtke bleibt, obwohl er sich "immer wieder auf dem Gebiet der Kirchengeschichte hervorgetan hatte" (ebd.), unberücksichtigt, weil er sich "nicht nur mit der Kirchengeschichte, sondern mit dem gesamten Gebiet der Theologie beschäftigte" (ebd.). Karl Dienst hin wiederum "hätte allein schon wegen seiner zahlreichen kirchenhistorischen Veröffentlichungen eine Erwähnung in diesem Buch verdient" (10); er wurde aber in Praktischer Theologie promoviert, "gehörte also nicht im engeren Sinn zu den deutschen evangelischen Kirchenhistorikern des 20. Jahrhunderts" (ebd.). Auf der Strecke bleibt ferner Erika Dinkler-von Schubert: "Trotz zahlreicher nützlicher Arbeiten, die sie zur Kirchengeschichte vorgelegt hat, war sie Kunsthistorikerin und nicht Kirchenhistorikerin." (ebd.) Auch Gerhard Wehr - von den vorweg zu "Hobby-Kirchenhistorikern" (vgl. 9) Erklärten ganz zu schweigen - bleibt unerwähnt, obzwar er nach Urteil J.s eigentlich "eine Erwähnung verdient gehabt" (ebd.) hätte: "Aber der strenge Maßstab, hier nur professionelle Kirchenhistoriker beziehungsweise mit einer kirchengeschichtlichen Arbeit promovierte Theologen und Theologinnen zu berücksichtigen, verbot seine Nennung." (11) Eine Auswahl zu treffen ist nötig und legitim, keine Frage! Zu prüfen ist allerdings die Präzision der Kriterien der getroffenen Auswahl und deren Begründung sowie die Frage, ob der Vf. in seinem vorgelegten Werk selbst strengen Professionalitätsmaßstäben gerecht geworden ist.

J.s Kompendium ist kein Werk professioneller Kirchengeschichtsschreibung - sein Beitrag zum Verständnis der Kirchengeschichte und ihrer Historiographie ist damit notwendig beschränkt. Doch einzelne Artikel enthalten durchaus wichtige Informationen und erfüllen gelegentlich lexikalische Funktionen. Auch dass einige vergleichsweise unbekannte oder in Vergessenheit geratene Namen der kirchenhistorischen Disziplin in Erinnerung gebracht werden, ist vorbehaltlos zu begrüßen. Eigentliche Forschungs- und gedankliche Erschließungsarbeit wurde indes weder diesbezüglich noch gar in Bezug auf diejenigen betrieben, die als die Großen der Zunft zu gelten haben. Wer erste Orientierung sucht, bekommt sie von J. ansatzweise und in einigen Artikeln vergleichsweise detailliert geliefert. Einige Passagen hingegen lassen den Leser eher ratlos zurück. So erfährt man, um nur ein willkürlich herausgegriffenes Beispiel zu geben, von dem, wie es heißt, Tübinger Ratzingerverbündeten Ulrich Wickert (1927-2009) nicht nur, dass er sich "von einem der historisch-kritisch arbeitenden, für die an den Theologischen Fakultäten in Deutschland betriebene wissenschaftliche Theologie aufgeschlossenen zu einem konservativen, [...] die Bekenntnisbewegung ‚Kein anderes Evangelium' unterstützenden Theologen entwickelt" (346) hat, sondern auch, dass er "intensiv mit der katholischen Marien- und Heiligenverehrung" (ebd.) befasst war, um in beiden ‚;einen Weg zu Christus" (ebd.) zu finden. Wie immer man Wickerts Wege bzw. Abwege beurteilen mag: Bis hierhin sind sie von J. jedenfalls halbwegs verständlich beschrieben. Doch was will uns ein Satz wie der unmittelbar folgende sagen: "Vor allem fand er {sc. Wickert] in ihnen [sc. Marien- und Heiligenverehrung] eine Möglichkeit, die Kirche jenseits des Kreuzes Christi so zu erneuern, wie sie es heute braucht, und eine im Protestantismus in Vergessenheit geratene Dimension der Kirche so zu erschließen, dass die Ganzheit und die ökumenische Einheit der Kirche wieder in den Blick tritt." (ebd.) Kryptische und unverständliche Aussagen wie diese tragen zum Verständnis der Kirchengeschichte und ihrer Methodik eher wenig bei. Auch die "Ergebnisse und Aussichten" (431-434) bieten einige bemerkenswerte Aspekte, aber ohne die für Theoriebildung nötige Begriffsschärfe und systematische Gedankenklarheit.

Eher nebenbei erinnert J. gegen Schluss seiner Arbeit an die "bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts in der evangelischen Theologie in Deutschland intensiv geführte Debatte über das Wesen und Ziel der Kirchengeschichtsschreibung und entsprechend über die kirchengeschichtliche Methodik" (432), um fortzufahren: sie "ebbte zum Jahrhundertausgang allmählich ab" (ebd.). Man wird nicht sagen können, dass J.s Buch der eingetretenen Ebbe ein Ende bereitet hat. Einen entwickelten Begriff von Kirche, Geschichte, Kirchengeschichte und kirchengeschichtlicher Historiographie erhält man in ihm nicht: der Untertitel des Werkes mag hingehen; die hohen Erwartungen, die der Titel erweckt, bleiben jedoch weitgehend unerfüllt.

Gunther Wenz, München


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