Bernd Jaspert

Kirchengeschichte verstehen

Evangelische Kirchenhistoriker des 20. Jahrhunderts in Deutschland

Rezension


Historiker schreiben nicht nur Geschichte, sie "machen" auch Geschichte - durch ihre Auswahl und Darstellung entstehen Vorstellungen und Bilder, die weiterwirken, und ihre Deutung prägt das Verständnis und fliest ein in das Handeln ihrer Zeitgenossen und der Nachgeborenen. Bernd Jaspert legt mit dem Buch "Kirchengeschichte verstehen" eine neue Frucht seines historiographischen Interesses vor. Er behandelt 115 evangelische Kirchenhistoriker und -historikerinnen (110 Männer und 5 Frauen), die zwischen 1845 und 1957 geboren wurden und bis zum 1. April 2015 gestorben sind. "In chronologischer Reihenfolge will ich herausfinden, wie sie die Kirchengeschichte verstanden Insofern handelt es sich hier um eine Forschungsgeschichte" (9). Die durchschnittliche Länge der Beiträge zu den einzelnen Gestalten liegt bei knapp 3 Seiten. Die knappste Darstellung im Umfang einer halben Seite ist dem Jenaer Kirchenhistoriker Joachim Schüffler (+ 2006) gewidmet; die längsten Artikel des Bandes erhalten Adolf von Harnack (+ 1930) und Erich Seeberg (+ 1945) mit je 10 Seiten sowie Werner Elert (+ 1954) mit 14 Seiten. In den einzelnen Darstellungen kommen drei Elemente in wechselnder Gewichtung zu Wort. Informationen zu Leben und Werk, ausgewählte Zitate sowie eine zusammenfassende Würdigung des jeweiligen Verständnisses von Kirchengeschichte. Die Angaben zum Lebenslauf und zum akademischen Weg sind eher knapp gehalten; bei Personen, die Jaspert in seinem fünfbändigen Werk "Mönchtum und Protestantismus" behandelt hat, wird dorthin weiterverwiesen. Die eingefügten Passagen aus Veröffentlichungen der Forscher und Forscherinnen geben dem Buch einen besonderen Wert; die dahinterstehende bibliographische Leistung lässt sich auch an dem umfangreichen "Quellen- und Literaturverzeichnis" (435-504) ablesen. Die Aussagen darüber, wie die einzelnen Gelehrten Kirchengeschichte verstanden und betrieben, bleiben öfters punktuell und relativ allgemein, nicht nur bei kurzen Darstellungen. Der (längste) Beitrag über Werner Elert mündet in die Feststellung: "Elert begriff die Dogmengeschichte als den wesentlichen Inhalt der Kirchengeschichte ... Die Frage, was die Kirchengeschichte ausmacht und wie sie methodisch zu behandeln ist, hat der Erlanger Theologe nicht beantwortet - weder als Kirchenhistoriker noch als Systematiker" (138). Ein besonderes Augenmerk Jasperts gilt dem ökumenischen Charakter der Kirchengeschichte, der über die lange vorherrschende konfessionelle Betrachtung hinausführt. Der Autor ist von der Notwendigkeit überzeugt, dass kirchengeschichtliche Forschung nicht nur interkonfessionell, sondern auch interreligiös und interdisziplinär betrieben werden muss. Er stimmt der Bilanz von August Franzen zu "die Öffnung für das Kommende ist das Gebot der Stunde" und gelangt im Schlussteil des Buches "Ergebnisse und Aussichten" (431-434) zu der zuversichtlichen Einschätzung: "Ist das Kommende ein Pluralismus der Meinungen, auch in der Theologie, dann müssen auch die Kirchengeschichte und ihre Methoden als ein Teil der Theologie diesen Pluralismus widerspiegeln. Diese Wissenschaft, die heute meistens als eine theologische verstanden wird, kann es, denn sie ist ihrem Wesen nach so vielfältig wie die Christenheit in ihrer Geschichte und Gegenwart (434). Das Buch bietet einen symphonischen Gang durch mehr als ein Jahrhundert der jüngeren Kirchengeschichtsschreibung und anregende Perspektiven für die künftige Arbeit.

Albert Schmidt OSB, Beuron


Copyright © 2015 by Verlag Traugott Bautz