Karlheinz Lipp

Pazifismus in der Pfalz
vor und während des Ersten Weltkrieges

Ein Lesebuch

Rezension


Nachgerade inflationär sind die Publikationen mannigfaltigen Formats, die sich aktuell mit dem Ersten Weltkrieg befassen. Von einigen Historikern als "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet, bietet der zeitliche Abstand von genau 100 Jahren als "Jubiläum" aktuell hinreichend Anlass, sich nochmals systematisch mit den damaligen Ereignissen zu befassen. Ursachen und Verlauf, Verantwortlichkeiten und einzelne Probleme wie insbe-sondere Verdun 1916 werden auch aus gezielt anderen Perspektiven von Neuem aufgerollt, aufgrund bislang unbeachteter Quellen auch neu interpretiert. Bücher, Aufsätze, Filme, Vorträge und museale (Neu-) Inszenierungen zum Thema sind kaum mehr überschaubar, derart intensiv ist die Auseinandersetzung mit der Materie. Angesichts dieser Überfülle vermag es dann zu überraschen, dass einzelne Aspekte dennoch eher stiefmütterlich be-handelt werden und nur am Rande vorkommen. In diese Lücke vor stößt das "Lesebuch", in dem sich Karlheinz Lipp mit einer Geisteshaltung auseinandersetzt, die es in jener Zeit tatsächlich auch gab: dem Pazifismus nämlich. Scheinbar euphorische Kriegsbegeisterung, ins Kraut geschossener Militarismus, Hurrapatriotismus, Säbelrasseln, nationalistischer Chauvinismus und parallel dazu die sich mit zunehmender Kriegsdauer steigernde Zensur, Realitätsverschleierung und Propaganda haben diese Geisteshaltung aus heutigem Blickwinkel zu einer scheinbaren Randerscheinung werden lassen. Der Autor, der seine Schwerpunkte schon seit geraumer Zeit auf die historische Friedensforschung setzt, nimmt in seinem neuen Buch die Friedensbewegung speziell in der Pfalz, seiner Heimatregion, unter die Lupe.

Der Pazifismus spielte nach der Jahrhundertwende eine durchaus beachtliche Rolle, wie Karlheinz Lipp in seiner Einleitung skizziert. Die 1892 in Berlin gegründete Deutsche Friedensgesellschaft und die Auszeichnung ihrer Initiatoren Bertha von Suttner (1905) und Alfred Hermann Fried (1911) mit dem Friedensnobelpreis waren Stationen, die in der Öffentlichkeit des Kaiserreichs durchaus Resonanz fanden - auch in pfälzischen Gefilden, wo sich lokale Gruppen der reichsweiten Organisation gründeten. Noch im Juli 1914, also quasi am Vorabend des Infernos, gingen in Deutschland Abertausende gegen den Krieg auf die Straße: Philipp Dingeldey spricht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Ausgabe vom 1. April 2015) für diesen letzten Monat vor dem Krieg von 288 Demonstrationen und Kundgebungen, deren größte mit 100.000 Teilnehmern in Berlin stattfand. Die über die Presse systematisch gelenkte Verunglimpfung der Kriegsgegner als "vaterlandslose Gesellen" und "Friedenshetzer", die anfänglichen "Erfolge" des Krieges und die mit gleichen propagandistischen Mitteln geschürten Illusionen, zu Weihnachten 1914 seien alle Soldaten ja wieder zu Hause und der Krieg gewonnen, machten jedweder Nachdenklichkeit und jedweden Infragestellungen freilich schnell den Garaus.

Ausdrücklich als "Lesebuch" konzipiert, zitiert Karlheinz Lipp ausgiebig aus zeitgenössischen Texten, aus denen die Einstellungen und Sichtweisen der pfälzischen Pazifisten gut erkennbar und nachvollziehbar werden. Dass so mancher lange vor Kriegsbeginn verfasste Text aus der Retrospektive prophetisch klingt, versteht sich angesichts der tatsächlichen Ereignisse von selbst. "… man wird in späterer Zeit sich nicht genug wundern können, dass Völker, die sich Kulturvölker nennen, so lange unter dem Gewaltprinzip und in der Barbarei gelebt haben, dass sie Unsummen für Mordwerkzeuge vergeudeten, welche sie von Zeit zu Zeit zur gegenseitigen Vernichtung und zu gegenseitigem Verderben anwandten, anstatt wie es die Vernunft geboten hätte, in Verbindung miteinander zu treten und zu beraten, was die Wohlfahrt Aller fördern könnte", heißt es beispielsweise bereits 1907 in einem Aufsatz von Karl Simon. Der Kaufmann aus Neustadt an der Weinstraße bezog schon lange vor dem Weltkrieg öffentlich immer wieder pazifistisch und weitsichtig Stellung.

Zu Wort kommen in Lipps Lesebuch auch durchaus prominente Kriegsgegner. Ernst Bloch etwa, der aus Ludwigshafen stammende Philosoph, nahm in der Marokkokrise 1911 kein Blatt vor den Mund und benannte auch jene Kreise, die vorsätzlich einen Krieg in Kauf genommen hatten, um ihre Interessen durchzusetzen: Das "deutsche Großkapital" in Kom-bination mit dem "deutschen Generalstab" stelle eine besonders verhängnisvolle Paarung dar. "Hier ist eine alte Wurzel des Übels, der preußische Leutnant, den uns die Welt nicht nachmacht; die andere, neuere, kapitalistische Wurzel ist heute gleichsam originärer, doch sie allein würden die Krieg kaum so bedenkenlos, so ohne Risikoscheu betreiben. Das ist die explosible Lage im Land des Mannesmannhaftesten Kapitals und eben auch, fast vorkapitalistisch, der schneidigsten Offiziere". Diese Analyse Blochs drei Jahre vor Kriegs-beginn beschrieb die Zusammenhänge auf den Punkt genau.

Karlheinz Lipp berücksichtigt in seiner Zusammenstellung aber nicht nur prinzipielle Kriegs-gegner, die Geisteshaltung ungebrochen und allen Restriktionen zum Trotz durchgehend vertraten. Er lässt auch Persönlichkeiten zu Wort kommen, die sich erst unter dem Eindruck der Gräuel der Kriegshandlungen zu Pazifisten wandelten. Eindrucksvoll ist in dieser Rubrik die Schilderung von Hugo Ball. In Pirmasens geboren und in Zweibrücken zur Schule gegangen, hatte er sich als Kriegsfreiwilliger gemeldet, war aber aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Militärdienst zugelassen worden. Seiner Euphorie setzte eine Fahrt an die nahe Front in Lothringen vom 29. August bis 1. September ein abruptes Ende; noch unbeschadet von der Zensur konnte Ball seine Beobachtungen in literarischer Qualität in der Pirmasenser Zeitung veröffentlichen. Auch seine Schlussfolgerungen lesen sich als klare Analyse der Ursachen des Krieges, seines Verlaufs und seiner Konsequenzen bis ins letzte Detail. Unter dem Eindruck der Geschehnisse verließ Ball Deutschland und ließ sich in der Schweiz nieder. Mit einer Reihe weiterer Exilanten gehörte er in Zürich zu den Be-gründern des Dadaismus, jener Kunstrichtung also, die dem real vorherherrschenden Wahnsinn den Spiegel vorhielt. So detail- wie aufschlussreiche Tagebücher, die Positionen von Parteien und Kirchen, pazifistisch motivierte Kunst, die politische wie administrative Unterdrückung der Kriegsgegner sind weitere Kapitel in dem informativen Lesebuch, das einerseits ein wichtiges Thema aufgreift und andererseits gleichsam zeigt, wo die Forschungsdesiderate dieses ansonsten so intensiv beackerten Sujets bestehen. Deren Lücken gibt es wohlgemerkt durchaus einige; so findet bisher beispielsweise auch die ka-tastrophale Situation verwundeter Soldaten und ihrer weiteren Lebensumstände wenig Beachtung.

Martin Baus


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