Rainer Waßner

Die letzte Instanz

Religion und Transzendenz in Ernst Jüngers Frühwerk

Rezension


Es hat nicht wenige Jünger-Leser sehr irritiert, als der Nicht-Christ Jünger zwei Jahre vor seinem Tod überraschend zum Katholizismus konvertierte. Kann man nun aus dem Rückblick auf ein Jahrhundertleben feststellen, wie folgerichtig ein solcher Schritt gewesen sein mag? Gibt es bereits im Frühwerk Anzeichen für religiöse Interessen des Autors? Diesen Fragen nachzugehen, ist sicher lohnend, wenn man versuchen möchte zu verstehen, wie Kontinuität und Wandel in der Weltanschauung Jüngers zueinander stehen.

Der (Religions-) Soziologe Rainer Waßner präsentiert Jüngers Interesse an religiösen Fragen in seinem Frühwerk in diesem Buch, das aus bereits früher veröffentlichten Aufsätzen und aus Vorträgen zusammengesetzt ist. Daraus erwachsen verschiedentlich Dopplungen oder gar Verdreifachungen mancher Informationen zu Jüngers Biographie und zu den Waßner interessierenden Zügen von Jüngers Werk, auch bei den zitierten Stellen, was bei kontinuierlicher Lektüre etwas störend sein kann. (Außerdem sind wohl die Kursivierungen der zitierten Buchtitel im Text verlorengegangen.) Es gelingt den Beiträgen von Waßner jedoch, die Spuren religiösen Interesses im frühen Werk Jüngers herauszuarbeiten und plausibel zu machen, dass diese unmittelbar mit seiner Wahrnehmung der Wirklichkeit vor allem im Ersten Weltkrieg in Verbindung stehen. Zwar war Jüngers Sozialisation wenig religiös geprägt, weil der protestantische Vater eher positivistischdarwinistisch orientiert war. Doch war die katholische Mutter sicher auch ein nicht gering zu schätzender Einfluss, der erklären kann, weshalb sich hier und da bemerkenswerte Aussagen finden, die zwar nicht katholisch sind, aber doch von einer gewissen Hochachtung gegenüber der Kirche zeugen, so sehr Jünger ihr Glauben überlebt erscheinen musste. Der Kern eines religiösen Bewusstseins lässt sich darin erkennen, dass Jünger gegen den Augenschein der Sinnlosigkeit auch und gerade in seinen Weltkriegsbüchern an der Sinnhaftigkeit des Geschehens festzuhalten suchte: Das Geschehen musste einen Sinn haben, die Gefallenen durften nicht umsonst gestorben sein (z.B. S. 62) - was verständlich erscheinen mag, aber letztlich nicht funktionieren konnte (vgl. S. 76 - 77). Interessanterweise wurden manche religiöse Formulierungen in den Kriegsschriften im Zuge späterer Bearbeitungen gestrichen (S. 48).

Im Frühwerk Jüngers findet man eine nichtchristliche Existenzdeutung, auch wenn Jünger sich durchaus mit christlichen Autoren befasste, die man einer spirituellen Vormoderne zuordnen kann. Jünger steht zwar innerhalb des Rahmens der abendländischen Tradition, zugleich aber auch gegen diese (S. 63). So verbleibt auch seine Aufklärungskritik durchaus noch im Rahmen, weil er keineswegs die Vernunft ablehnt, sondern "das Umgreifende" mittels einer "Annäherung" noch "verbreitern, vertiefen, fundieren" möchte (S. 82).

Waßner untersucht in diesem Zusammenhang nicht nur Stellen aus den Briefwechseln, sondern auch die erste Fassung von "Das abenteuerliche Herz", die Programmschrift "Sizilischer Brief an den Mann im Mond", den Band "Der Arbeiter", die zweite Fassung von "Das Abenteuerliche Herz", die Tagebücher des Zweiten Weltkriegs, außerdem auch "Lob der Vokale", "Afrikanische Spiele" und die "Reisetagebücher". So kommt die Verschränkung von heroischem Realismus und magischem Realismus gut heraus, die sich bei Jünger findet und dann aber auch weiter schreitet, indem er zunehmend erkennt, dass die Option, an den Glauben zu glauben, nicht haltbar ist. Gleichzeitig wird durch diese Entwicklung auch der Nationalismus der zwanziger Jahre überwunden. Jünger meinte damals, es sei "nicht nötig.

Hier sei nur auf die Neuedition eines dieser Tagebücher hingewiesen, weil Waßner zu recht die relative Vernachlässigung der Reisejournale aus den dreißiger Jahren moniert: "Atlantische Fahrt": "Rio - Residenz des Weltgeistes" Franzose, Katholik oder Christ zu sein, um an der entscheidenden Fragestellung teilzunehmen" (S. 96); diese entscheidende Fragestellung aber betrifft die Schaffung stabiler Werte, die indes gerade nicht vom traditionellen Glauben bewirkt werden kann, auch wenn Jünger grundsätzlich die Notwendigkeit einer religio anerkennt und auf diese zielt. Interessant ist auch, dass Jünger nun zunehmend auch dem Zweifel eine deutliche positivere Konnotation gibt, so dass Waßner zu dem bedenkenswerten Schluss gelangt: "Jüngers Werk ist wohl eine der radikalsten Absagen an die vita activa, welche die deutsche Literatur der Moderne kennt" (S. 108).

Damit wird aber auch deutlich, wie aufschlussreich es ist, den Denkweg Jüngers anhand der Schriften bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zu verfolgen, auch wenn Jünger natürlich "weder systematischer Theologe noch professioneller Philosoph" ist, sondern ein spirituell interessierter Schriftsteller (S. 163). Waßner sieht in den Kriegsjahren von 1939 bis 1945 durchaus eine Annäherung Jüngers an das Christentum, was an den Tagebüchern und der Friedensschrift illustriert wird.

Trotz mancher Wiederholungen, die dem ursprünglichen Publikationsformat geschuldet sind, bieten Waßners unaufgeregte und empathische Lektüren zur Rolle der Religion im Frühwerk Jüngers wertvolle Anregungen für die weitere Erforschung des Schriftstellers sowie der Signaturen des 20. Jahrhunderts, das wir im 21. Jahrhundert noch nicht wirklich hinter uns gelassen haben.

Till Kinzel


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