Gabriele Thießen

„Da verstehe ich die Liebe doch anders und besser.“

Liebeskonzepte der Münchner Boheme um 1900

bibliothemata, Band 28

Rezension


Gabriele Thießens Buch über die Liebeskonzepte der Münchener Boheme um 1900 präsentiert ein spannendes Thema, ist gut recherchiert, hat einige theoretisch-methodische Schwächen, und besticht schließlich durch seine literarische Qualität.
Die auch als freie Schriftstellerin tätige Autorin untersucht die Gefühle und Beziehungspraktiken der Bohemiens anhand einer detaillierten Analyse der Tagebücher von Franziska zu Reventlow, Oscar A.H. Schmitz und Frank Wedekind. Anders als die zu dem Themenfeld bereits vorhandenen literaturwissenschaftlichen und biografischen Publikationen nähert sich Thießen in der aus ihrer Masterarbeit hervorgegangenen Studie der Boheme erstmals aus emotionshistorischer Perspektive. Sie fragt: War die "erotische Rebellion" der promiskuitiven Bohemiens auch eine emotionale Rebellion? War die im Münchener Stadtteil Schwabing ansässige Boheme ein "emotional refuge", ein wohliger Zufluchtsort für junge Erwachsene die dem "emotional regime" der bürgerlichen Gesellschaft entfliehen wollten?[1] Handelte es sich bei der Boheme um eine "emotional community", die dem bürgerlichen Liebesideal der Ehe ein gemeinsames Konzept der "freien Liebe" entgegen setzte?[2]

Zunächst analysiert Thießen die Tagebücher der drei Bohemiens jeweils im Hinblick auf die Begrifflichkeiten, welche die "eigene Empfindung" der Liebe charakterisieren, die Männer- und Frauenbilder der verehrten, begehrten und kritisierten "Liebesobjekt", sowie die "Umsetzung des Liebesideals" in Beziehungspraktiken. Sie zeigt, dass die Bohemiens sich zwar sicher in ihrer Ablehnung des konventionellen bürgerlichen Lebens waren, sie in ihrer Gemeinschaft aber keineswegs einen Zufluchtsort fanden, in dem sie freies emotionales Glück auslebten. Depressionen, gebrochene Herzen, Enttäuschung und die ständige Suche nach einer anderen oder der wahren Liebe waren eher die Regel als die Ausnahme. Ein "emotional refuge", so Thießen, war die Münchener Boehme nicht.
Anschließend vergleicht sie die Liebeskonzepte ihrer drei Protagonisten und analysiert diese im zeithistorischen Kontext. Hier werden die zuvor als rein individuell behandelten Gefühle zumindest stellenweise zu sozialen Kategorien. Der Abgleich mit zeitgenössischen Konversationslexika und populärer Literatur, etwa der Philosophie Nietzsches, zeigt, dass sich die "individuellen" Gefühle in den Grenzen sozio-kultureller Möglichkeiten und Trends entwickelten. Nebst dem Befund einiger Gemeinsamkeiten im Gebrauch bürgerlicher Begrifflichkeiten und einem weitgehend geteilten Ideal des dionysischen Rausches in Sachen Sinnlichkeit kommt Thießen jedoch zu dem Schluss, dass in der Boheme kein festes Set von Gefühlsnormen zu finden sei. Die Liebeskonzepte und Beziehungspraktiken der Bohemiens seien höchst individuell gewesen. Im Sinne der Definition Barbara Rosenweins könne die Münchener Boheme daher nicht als "emotional community" bezeichnet werden. Sie sei bestenfalls eine "emotional community ex negativo" (S. 223), in der die Ablehnung und Abweichung von der normativen Praxis der bürgerlicher Liebe als ein gemeinschaftsstiftendes Element fungierte. Gabriele Thießen schlägt vor, das analytische Konzept der "emotional communities" auszudifferenzieren, etwa durch eine Kategorienbildung die zwischen "communities", "refuges" und "reservoirs" unterscheidet (S. 227). Die Münchener Boheme um 1900 sei in die letztere Kategorie einzuordnen.

Gabriele Thießen scheint mit dem Ergebnis ihrer emotionshistorischen Analyse unzufrieden zu sein und übt starke Kritik an der Geschichte der Gefühle. Sie konstatiert, es ließen sich durch die Geschichte der Gefühle "keine grundsätzlich neuen Perspektiven eröffnen", sondern lediglich vertiefende oder ergänzende Einblicke gewinnen (S. 226). Diese Einschätzung überrascht im Fazit einer sehr guten Arbeit, die mithilfe einer emotionshistorischen Herangehensweise sehr wohl eine neue Perspektive auf die Münchener Boheme eröffnet hat. Die Boheme erscheint nun nicht mehr allein als eine rebellische, kunstschaffende Gemeinschaft, die Promiskuität als politisches Statement gegen die bürgerliche Moralvorstellung praktizierte. "Die Boheme war vielmehr ein Auffang- und Sammelbecken, das aller Uneinigkeit zum Trotz als Experimentierfeld beansprucht wurde: ein "emotional reservoir" für Gefühlslaboranten auf der Suche nach 'whatever works'" (S. 223).

Thießen zitiert Ute Freverts Kritik am Ratiozentrismus der Geschichtswissenschaft: Bisherige Ansätze der Sozial, Politik- und Wirtschaftsgeschichte gingen implizit davon aus, dass Menschen "ihr Handeln primär an vernunftgeleiteten Kosten-Nutzen-Kalkülen" ausrichteten.[3] Thießen argumentiert: "So berechtigt dieses Ansinnen ist, so problematisch scheint sein Umkehrschluss, dass das Handeln von Menschen primär von Gefühlen bestimmt sei." Emotionshistoriker würden "über das Ziel hinausschießen", wenn sie "dem Verstand implizit eine untergeordnete, Gefühlen hingegen die handlungsleitende Rolle zuschreiben" (S. 224). Hier stützt Thießen ihr Argument offensichtlich auf ein Missverständnis. Denn die Kritik am Ratiozentrismus der Geschichtswissenschaft zielte auch in der kämpferischen Frühphase der Geschichte der Gefühle nicht auf eine Überhöhung der Gefühle ab, sondern auf die analytische Gleichstellung von Gefühl und Rationalität, aus deren Verknüpfung sich menschliche Handlung und geschichtlicher Wandel genauer, und häufig neu, erklären lassen. Thießens "Umkehrschluss" ist nicht richtig. Es geht in der Geschichte der Gefühle nicht um die Unterordnung der Kategorie Verstand unter die des Gefühls, sondern darum, dass die beiden Kategorien nach dem gegenwärtigen Forschungsstand in allen wissenschaftlichen Disziplinen der Emotionsforschung als sich gegenseitig konstituierend und somit untrennbar angesehen werden.

Vielleicht liegt es an den Spannungen zwischen Theorie und Methode, Fragestellung und Quellen in der Studie, dass Gabriele Thießen die Emotionsgeschichte lediglich als Mittel zur Vertiefung, nicht aber als Möglichkeit zur Innovation der Geschichtsforschung zur Boheme betrachtet. Während der Ansatz der "emotional communities" darauf ausgerichtet ist, Gefühle in kollektiven Prozessen der Aushandlung, Normierung und Kommunikation zu untersuchen, konzentriert sich die vorliegende Studie auf klassische Ego-Dokumente und betrachtet diese vornehmlich als Quellen für die persönliche "Selbstdarstellung" und "Selbstinszenierung" (S. 29). Dient der gewählte theoretische Ansatz eigentlich der Erforschung der sozialen Funktion von Gefühlen zwischen historischen Akteuren, sucht Thießen methodisch nach Hinweisen für die individuell erlebten Gefühle im Subjekt. Sie versteht die Tagebücher als "Repräsentationen von Gefühlen" (S. 27). Die "authentischen", im Inneren individuell erlebten Gefühle, müssen per Definition das Geheimnis der drei Bohemiens bleiben.

Margrit Pernau argumentiert[4], dass dieser Emotionsbegriff - nämlich die Verortung von Gefühlen im Inneren des Subjekts und die Vorstellung der Unzulänglichkeit des äußeren, kulturell überformten Ausdrucks von Gefühlen - ein historisches Produkt des europäischen Aufklärungsdiskurses sei und daher als Grundlage emotionshistorischer Forschung hinterfragt werden müsste. Neuere theoretische Konzepte in der Geschichte der Gefühle bieten bereits Möglichkeiten, dualistische Subjektvorstellungen und die kategorische Trennung von innerem Gefühl und äußerem Ausdruck zu vermeiden. Mithilfe von analytischen Ansätzen wie etwa "emotional practices", "emotional styles" oder "emotional translations" ließe sich beispielsweise erforschen, wie die Bohemiens durch das Tagebuchschreiben als emotionale Praktik ihre Gefühle erlebten, welche Gefühlsstile Schwabing und das in diesem Stadtteil ansässige Milieu überhaupt ermöglichte oder ausschloss, und wie sich der Körper und die Sinne als zentrale Kategorien in die historische Emotionsforschung einbinden lassen.[5] So birgt die Geschichte der Gefühle noch viel Potential, die von Gabriele Thießen eröffnete innovative Perspektive auf das Wirken, Leben und Fühlen der Münchener Boheme um 1900 zu erweitern und vertiefen.

Insgesamt hat Gabriele Thießen eine nicht nur für Gefühlshistoriker/innen und Literaturwissenschaftler/innen lesenswerte Studie vorgelegt. Die Arbeit überzeugt schließlich durch ihre literarische Qualität und das lebhafte Bild, dass die Autorin von ihren drei Protagonisten zu zeichnen vermag.

Imke Rajamani


Copyright © 2015 by Verlag Traugott Bautz