Martin Lätzel

Alte Wurzeln, neue Heimat

Die Enkel der Flüchtlinge und Vertriebenen als Avantgarde Europas

Buchtipp


Die Kinder und Enkel der Vertriebenen
Alte und neue Heimat
Gut 70 Jahre nach Flucht und Vertreibung ist die Erlebnisgeneration in die Jahre gekommen. Wer damals junger Erwachsener war und mit letzter Habe in einen Waggon gen Westen verfrachtet wurde, ist heute um die 90. Jene, die als Kinder noch eine vage Erinnerung an ihre Heimat in Pommern, Ostpreußen oder Schlesien hatten, gehen auf die 80 zu.

Martin Lätzel, Jahrgang 1970, Publizist und Theologe, seit 2013 Referatsleiter für Kulturentwicklung bei der Landesregierung Schleswig-Holstein, stammt aus einer schlesischen Vertriebenenfamilie und wuchs im Ruhrgebiet auf. In seinem Buch beschreibt er die Generation der Kinder und Enkel und deren Verhältnis zu einer "Heimat", die sie zunächst nur vom "Hörensagen" und den Erinnerungen der Eltern her kannte. Längst aber hat diese Generation die früher als Last des Fremdseins empfundene Situation der Eltern umgewandelt in ein neues Interesse an den kulturellen Wurzeln der eigenen Familie. Die Generation der Kinder und Enkel, so Lätzel, verweigerte sich irgendwann der Wehmut oder gar dem von Vertriebenenverbänden forcierten Blick zurück. Ihr Interesse gilt vielmehr Europa. Mit dem Bersten des Eisernen Vorhangs und der Freizügigkeit ist es sowohl der Erlebnisgeneration wie auch den Kindern und Enkeln möglich, frei zu reisen, die Wurzeln jenseits von Oder und Neiße wieder in Augenschein zu nehmen, alte und neue Heimat miteinander in Beziehung zu setzen und die Wehmut um das Verlorene mit der Freude über das Gewonnene abzufedern.

Die Annäherung an die alte Heimat geschah dabei in verschiedenen Stufen, wie Lätzel schildert. Erst die Erzählungen der Eltern, dann die Treffen mit ähnlich situierten Familien. Später die Buchliteratur und zugleich die persönliche Begegnung mit der Heimat der Eltern seit den späten 1980er Jahren, als endlich europäisches Tauwetter einsetzte.

"Wir sind Kinder Europas" so lautet die Schlussfolgerung des Autors. "Europa darf keine Selbstverständlichkeit werden, sondern muss ein stetiger Auftrag bleiben. Die Generation der Vertriebenenkinder sollte es als originäre Aufgabe ansehen, das Projekt Europa zu erhalten, zu pflegen und den Wertekonsens weiterzuentwickeln."

Johannes Loy


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