Birgit Siekmann/Peter Schmidtsiefer (Hrsg.)

Global Players oder Vaterlandslose Gesellen?

Beispiele aus dem Wuppertal für Begegnungen mit der „weiten Welt“

Rezension


Einen weiten Bogen spannen die Herausgeber, um fünf Beiträge auf einen Nenner zu bringen. Behandelt werden der Textilunternehmer und Verbandsfunktionär Abraham Frowein, die Auseinandersetzung des CVJM um die Kriegsschuldfrage, der amerikanische Kirchen Organisator Eduard Ludwig Nollau, die Anarchisten im deutschen Kaiserreich und die Emigration des jüdischen Schneidwarenunternehmers Paul Zivi in Brasilien. Die Zeiträume reichen vom Vormärz bis in die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. In seiner Einleitung skizziert Peter Schmidtsiefer die "mental maps"‚ die informellen Welt-Entwürfe Wuppertaler Persönlichkeiten, die die spezifische Struktur ihrer Region, wo die Transformationsprozesse konkretisiert werden, zu anderen (Welt-) Regionen in Beziehung setzen.
Der ausführlichste Beitrag ist Schmidtsiefers Aufsatz "Unternehmer im Widerspruch" über Abraham Froweins Wirken in der Weimarer Republik und im "Dritten Reich".

Frowein entstammte einer mittelständischen Elberfelder Textilindustriellenfamilie, war jedoch seit 1919 vorwiegend als Verbandsfunktionär tätig, so in den Präsidien des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, des Arbeitgeberverbandes und der Internationalen Handelskammer, (nicht Internationale Industrie- und Handelskammer). Obwohl wirtschaftsliberal geprägt, repräsentierte Frowein einen am Gemeinwohl orientierten Besitzindividualismus. Er stellte sich auf den Boden der Tatsachen und verlangte von den Industriellen 1919 wie 1945 Anpassungsbereitschaft. Als führender Verbandsfunktionär arbeitete er seit 1919 sachlich mit den Gewerkschaften zusammen. Schmidtsiefer urteilt, Froweins Haltung zur Weimarer Republik sei "möglicherweise" über bloßen Vernunftrepublikanismus hinausgegangen Jedenfalls verließ er die Deutschnationale Volkspartei, als der Pressezar Hugenberg begann, sie an der Seite der NSDAP zu radikalisieren. Insofern sind Beschuldigungen einer frühzeitigen Forderung der NSDAP, die Schmidtsiefer relativiert, aus der Luft gegriffen. Vollends ins Schlingern gerät der Autor hinsichtlich Froweins seinerzeit behaupteter Eigenschaft als Jude. Vielmehr war er, was dem Autor entgeht, nach der NS-Rassenarithmetik mit einer Halbjüdin verheiratet, deren Großeltern bereits zum Christentum konvertiert waren. Dies rückt seine Distanz zum Nationalsozialismus und seinen effektiven Einsatz für jüdische und jüdisch versippte Freunde und Bekannte ebenso in ein anderes Licht wie seine Beauftragung durch jüdische Eigentümer, die "Arisierung" ihrer Unternehmen zu organisieren. Schmidtsiefer attestiert Frowein im Falle der Arisierung der L. Tietz AG (Westdeutscher Kaufhof) die Haltung eines ehrbaren Kaufmanns, erklärt sein Verhalten bei der Rohtex Arisierung 1938 aber für zwiespältig und fragwürdig. Seine einzige Grundlage für dieses Werturteil ist der Umstand, dass Frowein nicht nur von der jüdischen Eigentümerfamilie, sondern auch vom Reichswirtschaftsministerium und der NSDAP-Gauleitung Württemberg beauftragt worden war; er bezeichnet ihn daher als "Agenten der Inhaberfamilie wie der nationalsozialistischen Führung". Schmidtsiefer übergeht die Tatsache, dass die jüdischen Unternehmer die ohnehin anstehende Arisierung durch die Beauftragung Froweins zu mildern hofften. Von ihm erwarteten sie offenbar die Nutzung verbliebener Spielräume. Wenn Schmidtsiefer ihm abschließend "innere Widersprüche und im Rückblick nur schwer verantwortbare Entscheidungen" bescheinigt, stellt er gar nicht erst die Frage, ob Frowein das Vertrauen seiner jüdischen Mandanten gerechtfertigt oder missbraucht hat und ob regimekonforme Arisierungsbeauftragte die Verhandlungsspielräume zugunsten der jüdischen Unternehmer genutzt hätten.

Während Frowein seine deutschen Verbandsämter 1933 aufgeben musste, blieb er Ehrenpräsident der Internationalen Handelskammer in Paris und Präsident ihrer Deutschen Gruppe bis 1938. Bemerkenswert ist, wie er in Berlin beim Kongress der Internationalen Handelskammer, den er selbst vorbereitet hatte und eröffnete, in Gegenwart Hitlers und Görings 1937 für den internationalen Handel im Sinne der Verbrauchsgüterindustrie plädierte und damit der nationalsozialistischen Autarkiepolitik indirekt widersprach. Birgit Siekmann widmet sich in ihrem Beitrag der Frage, wie der deutsche CVJM "[d] ie Kriegsschuldfrage auf, den Weltkonferenzen des Weltbundes Christlicher Vereine Junger Männer" behandelte. Zwar handelte der Weltbund nach dem Grundsatz der Neutralität in politischen Fragen, aber der Versailler Vertrag war aus verschiedenen Gründen ein so vielschichtiges, auch moralisches Problem, dass er um seine Erörterung nicht herumkam. Auf der ersten CVJM-Weltkonferenz nach dem Ersten Weltkrieg, die 1926 in Helsingfors tagte, fand eine Diskussion unter der Leitfrage statt: "Wie kann ein Mensch seinem Vaterlande treu sein und zu gleicher Zeit einer größeren Sache dienen?" Die sibyllinische Antwort, durch eine persönlich christliche Lebensführung den Staat zu beeinflussen, konnte nicht genügen. Die Entwicklung der Auseinandersetzung um die Kriegsschuldfrage beim CVJM-Weltbund und bei den CVJM-Organisationen insbesondere Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens kann hier nicht nachgezeichnet werden. Immer wieder spiegelte sich die internationale Lage in den Positionen der nationalen CVJM wider. Schließlich legte die deutsche Delegation auf der Weltkonferenz von Cleveland (Ohio) im August 1931 einen Entwurf vor, der die einseitige Kriegsschuldzuweisung ablehnte. Die CVJM-Weltkonferenz beschloss bei Stimmenthaltung der deutschen Delegation und Zustimmung der Franzosen mit großer Mehrheit, die Ungerechtigkeit zu verwerfen, dass ein Volk oder eine Gruppe von Völkern einseitig für den Ersten Weltkrieg verantwortlich wäre. Der Völkische Beobachter beschimpfte die deutsche Delegation wegen ihrer Stimmenthaltung der Feigheit, was der Reichswart der evangelischen Jungmännerbünde Erich Stange mit der überzeugenden Begründung zurückwies, dass nicht die eigenen deutschen Stimmen in der Abstimmung das Übergewicht hätten bewirken sollen. Der deutsche CVJM errang damit einen bedeutenden diplomatischen Sieg. Ob er nicht doch auch global dachte, bedarf näherer Forschungen.

Dietrich Meyer setzt sich mit dem Oberlausitzer Theologen Eduard Ludwig Nollau (1805-1869) auseinander, der auf der Missionsschule in Barmen zum Missionar ausgebildet und für die Indianermission vorgesehen wurde, aber faktisch für die Kirchenbildung unter deutschen Auswanderern in den USA wichtig wurde Dort war er besonders in St. Louis und im Mittleren Westen tätig. Er gilt als Mitbegründer der United Church of Christ in den USA und wird heute für die Initiierung zweier diakonischer Einrichtungen geehrt. Meyer zitiert längere Passagen aus Nollaus Berichten, die die anfänglich schwierige Lage sowohl der vereinzelten evangelischen (und katholischen) Christen als auch die der Pfarrer plausibel machen.

Günther van Norden setzt sich mit den Wuppertaler Anarchisten im Kaiserreich auseinander. Wahrend der Großteil der Anarchisten auf einen friedlichen Wandel der Verhältnisse setzte, verübte eine Minderheit spektakuläre Attentate, bei denen z. B. der russische Zar Alexander 1881, der französische Präsident Carnot 1894 und die österreichische Kaiserin Elisabeth (Sisi) 1898 ums Leben kamen. Bereits der Reichstagsabgeordnete der SAPD für Elberfeld-Barmen, Wilhelm Hasselmann, sympathisierte nicht nur mit dem Anarchismus schlechthin, sondern speziell auch mit dem gewaltbereiten Individualismus, weshalb er aus der verbotenen SAPD ausgeschlossen wurde. August Reinsdorf, ein besonders radikaler Anarchist, bereitete mit einer kleinen Gruppe anlässlich der bevorstehenden Einweihung des Niederwalddenkmals 1893 ein Sprengstoffattentat vor, das misslang. Das Reichsgericht verurteilte Reinsdorf und zwei weitere Attentäter zum Tode, einen Vierten zu 10 Jahren Zuchthau. Wie van Norden zeigt, folgte den anarchistischen Gruppenbildungen die polizeiliche Überwachung im Wuppertal, aber auch in Deutschland und Europa auf dem Fuße. Auch die Überwachungsbehörden waren "global player". Sie überlieferten, dass die Anarchistische Föderation des Rheinlands und Westfalen in Elberfeld-Barmen von 33 Mitgliedern 1908 auf noch 7 Mitglieder 1914 schrumpfte. Bemerkenswert ist, dass die rheinisch-westfälischen Anarchisten dem Syndikalismus zuneigten, aber auch die syndikalistischen Gewerkschaften fanden wenig Anhang. Zudem konstatiert er eine "friedliche Trinität von Anarchismus, Bohème und Expressionismus" im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg. Tatsächlich wurden vom Gefühlsrausch 1914 auch Anarchisten mitgerissen.

Den abschließenden Beitrag über "Paul Zivi und seine Solinger Messerschleifer in Porto Alegre, Brasilien", hat die Leiterin der Begegnungsstätte Alte Synagoge in Wuppertal-Elberfeld, Ulrike Schrader, verfasst. Paul Zivi, Sohn eines Kantors der Elberfelder Synagogengemeinde, baute aufgrund der Weltwirtschaftskrise 1931 in Brasilien eine eigene Schneidwarenfabrik auf, wodurch es ihm gelang, den Markt zu bedienen. Ein Bericht seines gleichfalls emigrierten Solinger Mitarbeiter Karl (Carlos) Ohliger vom August 1981 wird anschließend gekürzt wiedergegeben. In der Emigration kam Zivis Firma nach Anlaufschwierigkeiten gut über die Runden, während die bergischen Hersteller von Kleineisenprodukten unter der verbraucherfeindlichen NS- Wirtschaftspolitik litten.

Ein Personenregister, das auch Lebensdaten, Berufs- und ggf. andere Angaben nennt, erleichtert den Zugang zu dem lesenswerten Band.

Horst Sassin, Solingen


Copyright © 2015 by Verlag Traugott Bautz