Birgit Siekmann/Peter Schmidtsiefer (Hg.)

Global Players oder Vaterlandslose Gesellen?

Beispiele aus dem Wuppertal für Begegnungen mit der „weiten Welt“

Rezension


Vor fünf Jahren haben Birgit Siekmann und Peter Schmidtsiefer im selben Verlag ihren Aufsatzband ›Feldgraue Mentalitäten‹ zum Thema Nation und Religion im Wuppertal des Ersten Weltkriegs veröffentlicht. Er wurde in MEKGR 61(2012), 382-386 besprochen, bei der Jahrestagung des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte in Koblenz-Pfaffendorf 2014 wurden auch zwei Vorträge daraus gehalten.‹br› Nun geben Siekmann und Schmidtsiefer einen neuen Band heraus: ›Global Players oder vaterlandslose Gesellen?‹ - ein zunächst kryptisch anmutender Titel. Ebenso kryptisch wirkt auf den Betrachter die für ein solches Buch ungewöhnliche Titelillustration. Sie zeigt eine überaus reich verzierte bronzene Prunk-Uhr, französische Kunst des Rokoko aus dem Wuppertaler Uhrenmuseum, mit drei nackten Grazien und einer von ihnen hochgehaltenen Weltkugel samt römischen und arabischen Zeitziffern und einem gleichfalls nackten Genius - erklärungsbedürftig wie schon der ›Eiserne Mann‹ für ›Kriegsnagelungen‹ auf dem Einband der erstgenannten Publikation.‹br› So hat Peter Schmidtsiefers Einleitung zum Bild und zu den einzelnen Aufsätzen ihre Berechtigung. Diese Luxus-Uhr nach Clodion symbolisiert das Zeitkonzept der damaligen "globalen Weitsicht" aus dem Wuppertal ebenso wie Gewerbefleiß und Segen der Erde (30 f). Die nachfolgenden fünf Einzelbeiträge annonciert Schmidtsiefer ausführlich, womit er auch den Buchtitel verdeutlichen will.

Ausgehend vom ›Landschaftszimmer‹ Johann Caspar Engels in Unterbarmen (›Engelshaus‹) wird der Blick - aus der harten sozialen Realität des ›Unterbarmer Bruchs‹ - auf Europa und die weite Welt des Handels geöffnet. ›Region‹, hier das Wuppertal, ist für Schmidtsiefer der Schlüsselbegriff: als realer Raum, Bedeutungsraum, Raum dynamischer Strukturen und heute schließlich Krisenraum, in dem sich das Lokale und das Globale treffen. Region ist also nicht das Beharrende der Provinz, sondern der Ereignisraum der "Transformationsprozesse" (10). Die "Sprache der Glocken" wie ebenso der revolutionäre Fahr- und Streckenplan der neuen Eisenbahnen erschließen Zeit und Raum in der Region für eine Umwälzung der Vorstellungswelten. Diese erwachsen aus dem niederrheinischen und Siegerländer Pietismus, befördert durch die Gedanken der Aufklärung, wie auch durch die Äußere Mission Barmens und die vielfältigen überregionalen Vereine und Gesellschaften der Inneren Mission. Dass daneben der Vierte Stand mit Gewalt und zuweilen Kriminalität aus der neuen Fabrikwelt hervorbricht und nach politischem Gehör schreit - Friedrich Engels, Ferdinand Lassalle - ‚ beschreibt Schmidtsiefer ebenso. So verschafft er einen Ausblick auf die fünf Einzelbeiträge, um sie zugleich inhaltlich zu verknüpfen. Anmerkung: Die von ihm gewählte Charakterisierung der Themen als "Moving Targets" (24, i.e. bewegliche Ziele) klingt zwar chic, erweist sich aber - aus dem militärischen Bereich übernommen - nicht unbedingt als treffend (moving tatgels sind per definitionem zu erfassen und zu zerstören).

Von den Autoren des ersten Bandes sind wieder Peter Schmidtsiefer, Birgit Siekmann, Günther van Norden und Ulrike Schrader dabei; hinzugekommen ist Dr. Dietrich Meyer, der hier wohl noch bestens bekannte frühere Leiter des Landeskirchenarchivs Düsseldorf - eine der Seelen auch des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte.

Peter Schmidtsiefer portraitiert auf 48 Seiten Abraham Frowein (1878-1957), einen "Unternehmer im Widerspruch" (32), womit bereits die Hauptfrage nach seinem Weg zwischen moralischer Instanz und Opportunismus gestellt ist. Frowein war in das Elberfelder Textilunternehmen Abraham und Gebrüder Frowein hineingeboren, das streng calvinistisch gesinnt war und auch mehrere Elberfelder Burgermeister stellte.

1904 wurde er Teilhaber und Bauherr der Villa am Katernberg. Der familiär häufige Vorname ›Abraham‹ war rein biblisch gewählt und hatte keinen jüdischen Ursprung, was seinen Träger aber im Dritten Reich nicht vor den üblichen Verdächtigungen bewahrte. Schmidtsiefer zeigt diesen Lebensweg als den eines "ganz modernen Lobbyisten" (37) und Verbandsfunktionärs - stellvertretender Vorsitzender und Mitbegründer des Reichsverbands der Deutschen Industrie, stellvertretender Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes und anderer einflussreicher Interessenverbände. Dass Frowein nach 1919 äußerst geschickt versuchte, die Unternehmerpolitik auf internationaler Bühne zwischen Versailles und nationaler Verweigerung hindurch zu steuern, desgleichen zwischen Kapital- und Arbeitnehmerinteressen, dass er sich den Nationalsozialisten weder widersetzte noch andiente, dass er im April 1933 in den Aufsichtsrat des jüdischen Warenhausunternehmens Leonard-Tietz AG eintrat, ohne sie aber zu "arisieren" (48), dass er 1937 in Anwesenheit Adolf Hlitlers und Hermann Görings den Kongress der Internationalen Handelskammer im Berliner Opernhaus eröffnen durfte, dass sein Entnazifizierungsverfahren ihn erst 1948 ›entlastete‹ (Kategorie V), er wiederum 1953 durch das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern ausgezeichnet wurde - all das schildert Schmidtsiefer in den unterschiedlichen Facetten eines solchen Erfolgsweges, der auch innerfamiliär nicht unumstritten war. Entscheidend ist für den Autor, dass Abraham Frowein als moderner Unternehmer eine "Figur des Übergangs" war, die nach 1919 ebenso wie nach 1945 die "Zeitschwellen aktiv zu gestalten" suchte (37).

Birgit Siekmann stellt die Kriegsschuldfrage auf den Weltkonferenzen des Weltbundes Christlicher Vereine Junger Männer, also besonders "die deutschen CVJM in nationaler Mission auf internationalem Parkett" in den Blickpunkt ihrer Untersuchung (80-103). Diese spannend und detailreich wiedergegebene, sicherlich für die meisten Leser neue Materie umfasst das Vorfeld und die Vorgänge auf der ersten Weltkonferenz der CVJM nach dem Krieg, 1926 in Helsingfors. Für den rheinischen Leser durfte besonders interessant sein, dass die deutschen CVJM u.a. durch Wilhelm Busch, Friedrich Duensing, Paul Humburg, Johannes Schlingensiepen, Erich Stange und Ernst Stoltenhoff vertreten wurden. Geprägt wurde Helsingfors durch die starken Differenzen zwischen der deutschen und der französischen Vertretung in der Frage der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands, wobei heute die kluge, wenngleich durchaus national gesinnte Haltung Paul Humburgs lesenswert sein durfte - gegenüber der unversöhnlichen der französischen CVJM. Diese Spannungen hielten sich bis zur nächsten Weltkonferenz in Cleveland 1931. Auf der Grundlage einer Denkschrift zur Kriegsschuldfrage, mitverfasst von Paul Althaus und unterstützt von den US-Amerikanern, enthielt sich dort die deutsche Delegation bei der Bewertung des Versailler Diktats der Stimme, was einer Resolution gegen die alleinige Kriegsschuld Deutschlands den Weg ebnete. Dies feierten die deutschen Vertreter als "glorreichen Sieg", die Nationalsozialisten brandmarkten es wiederum als "greisenhafte Jämmerlichkeiten ›deutscher‹ junger Männer" (102). ›Global Players‹ oder ›Vaterlandslose Gesellen‹ also? Birgit Siekmann vermeidet beides und bleibt auf dem Boden historisch fundierter Abwägung.

Über Eduard Ludwig Nollau, einen "Oberlausitzer als Mitbegründer der United Church of Christ in den USA" schreibt Dietrich Meyer, als Archivar, Autor und Herausgeber Experte ebenso für schlesische wie rheinische Kirchengeschichte wie für Herrnhut und die Oberlausitz. Bei Eduard Nollau (1810-1869) geht es weniger um die Frage eines Globalismus aus dem Wuppertal als um die Biographie eines bemerkenswerten Missionars, der in den Vereinigten Staaten heute bekannter sein dürfte als im Rheinland. Geboren in Reichenbach/Oberlausitz, Schüler in Görlitz, Infanterist in Glogau, Militärbeamter in Erfurt, erlebte Nollau im Dezember 1831 seine "innere Neugeburt" [106j, bewarb sich erst bei der Berliner, dann bei der Barmer Mission, wurde dort 1837 als Missionar ordiniert und ging - Wilhelm Leipoldts und Carl Snethlages Unionskatechismus im Gepäck - zu den "Indianern in Nordamerika" (107). Da dies jedoch eher kein realistisches Missionsziel war, führte ihn sein Missionarsleben über viele Stationen, so nach St. Louis/Missouri bei den deutschen Siedlern, nach kurzzeitigem Bruch mit der Barmer Mission nach Kapstadt/Südafrika und zurück nach St. Louis. Dort wurde er Pfarrer der St. Peters-Gemeinde und 1850 Sekretär des bereits 1840 von ihm mitbegründeten ›Evangelischen Kirchenvereins des Westens‹. Nach seinem Tod 1869 entstand aus dem Kirchenverein über mehrere Zusammenschlüsse schließlich 1957 die heutige UCC, mit der rheinischen Landeskirche gut verbunden. Interessant sind hier auch die Betrachtungen zur Kirchenfeindlichkeit der Deutschen in den Vereinigten Staaten im Gegensatz zu den strenggläubigen Puritanern Neuenglands sowie die ausgerechnet in der neuen Welt fortgesetzten konfessionellen Kämpfe.‹br› Zwei kürzere Kapitel beschließen das Buch: Günther van Norden über "Die Anarchisten im Kaiserreich" (126-148) und Ulrike Schrader über "Paul Zivi und seine Solinger Messerschleifer in Porto Alegre/Brasilien" (149-168). Günther van Norden schildert die Geschichte der Anarchisten, die im "engen, dunklen, regenreichen Tal der Wupper" in den "elenden Verhältnissen" der Bandwirker (127) ab etwa 1878 offenbar fruchtbaren Boden vorfanden. Dies waren im Besonderen der Leiter des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und zeitweise Reichstagsabgeordnete Wilhelm Hasselmann, der hingerichtete Attentäter August Reinsdorf die SPD-Gegner Petrak und Fürtner, Bandwirker und anarchistische Aktivisten, und der Attentats-"befürworter" E. Steinle (135). Das währte solange, bis der Arbeiterschriftsteller Christian Ommerborn um etwa 1896 die gewaltfreie Linie des Anarchismus durchsetzen konnte und 1914 die nationale Begeisterung auch die letzten Kleingruppen in Elberfeld und Barmen zum Schweigen brachte. Dieser Aufsatz verdiente die weiterführende Diskussion, denn der Autor befragt zwar zum Schluss kritisch die offensichtliche Widersprüchlichkeit des Anarchismus, doch verspürt der Leser auch eine gewisse Antipathie gegen Bismarck und die Staatsmacht - samt der staatstreuen Sozialdemokratie - sowie eine gewisse Sympathie mit den gewaltfreien oder gewaltsam anarchischen - nebenbei auch kirchenfeindlichen - Kräften. Die These der Anarchisten, jeder könne frei, gleich, glücklich und sorglos leben, wenn es nur die Herrschaft der besitzenden Klasse nicht gäbe - vertreten von Michail Bakunin bis Gustav Landauer - wird nicht aufgelöst, ebenso wenig das Postulat der gewaltbereiten Richtung, Attentate einschließlich der Tötung Unbeteiligter konnten in einer Demokratie legitime Mittel sein.

Ulrike Schrader öffnet eine neue Seite: Ausgehend von den persönlichen schriftlichen Erinnerungen eines Facharbeiters der - als ›Mundial SA‹ noch existierenden - Messer- und Besteckfabrik ›Zivi-Hercules‹ in Porto Alegre schildert sie das Leben des jüdischen Unternehmers Paul Zivi (1899-1979): Vater Herrmann Zivi, Kantor an der Elberfelder Synagoge, Komponist einer Elberfelder Festhymne; die Bruder Ernst, Fritz und Paul als Gründer einer Besteckfabrik in Elberfelds berühmter Hofaue - "Straße der Kaufleute" (152); die weitsichtige Auswanderung mit Firmengründung bereits 1931 nach Brasilien; das dortige harte Unternehmertum wie auch Wohlstand und ›gutes Leben‹. Ulrike Schrader umreist dabei den weder religiös noch politisch besonders profilierten Lebensweg Zivis, was im rechten Brasilien noch bis zu seinem Tod wohl zweckmäßig war, selbst wenn es als Exilland für NS-Flüchtlinge galt. Zivis Judentum drückte sich eher in seiner unternehmerischen "Courage" (158), seiner sozialen Einstellung und seiner familiären Fürsorge aus, wozu auch die Schilderung der Schicksale seiner Angehörigen beiträgt.

So handelt es sich hier insgesamt um einen durchweg lohnenden Aufsatzband über ein bis dato kaum untersuchtes Thema, vom Regionalen ins Globale wandernd, mit recht großer Spannweite zwischen den Einzelbeiträgen. Ein Namensverzeichnis ist beigegeben; dagegen vermisst der Leser wenigstens einige Schwarzweiß-Bilder der handelnden Personen, leider auch eine etwas strapazierfähigere Fertigung des Paperbacks.

Holger Weitenhagen


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