Hans-Ulrich Lessing

Die Autonomie der Geisteswissenschaften

Studien zur Philosophie Wilhelm Diltheys

Erster Band
Dilthey im philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext

Philosophische Anthropologie
Themen und Positionen, Band 13.1

Rezension


Es gibt wohl nur wenige Forscher, die sich so intensiv mit dem Werk und der Philosophie Wilhelm Diltheys beschäftigt haben, wie Hans-Ulrich Lessing, der an der Dilthey-Forschungsstelle an der Universität Bochum seit Jahrzehnten mit Gudrun Kühne-Bertram und anderen die Herausgabe der "Gesammelten Schriften und Briefe" betreut. Daneben gibt es zahlreiche Publikationen zur Philosophie Wilhelm Diltheys, die Lessing als Experten ausweisen, übrigens auch auf dem Gebiet der philosophischen Anthropologie, der Kulturphilosophie und allgemein zu Theorien der Geisteswissenschaften.

Lessing legt mit diesen Bänden eine Sammlung ausgewählter Dilthey-Arbeiten vor. Vor allem geht es in dem ersten historisch ausgerichteten Teilband um die Beziehungen Diltheys zu Philosophen und Wissenschaftlern seiner Zeit, ferner auch um die Dilthey-Rezeption in der Philosophie des 20. Jahrhunderts (Plessner, Cassirer). Im zweiten Teilband erscheinen ausgewählte Schriften Lessings mit systematischem Bezug zu Diltheys Werk.

Wilhelm Dilthey selbst befasste sich in seinen beiden Hauptwerken "Einleitung in die Geisteswissenschaften" und "Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften" mit dem Versuch, seinem Gegenstand einen erkenntnistheoretischen und methodologischen Unterbau zu verschaffen, um die Gleichwertigkeit und Eigenständigkeit gegenüber den dominierenden Naturwissenschaften herauszustellen. Dilthey erkannte, dass es Unterschiede in der Vorgehensweise beider Wissenschaften gibt. Naturwissenschaften versuchen Gesetzmäßigkeiten in der physischen Welt ausfindig zu machen und natürliche Phänomene zu erklären, während Geisteswissenschaften versuchen, den in Gegenständen objektivierten Geist (Ausdruck) in seinem jeweiligen Entstehungskontext nachzuempfinden und zu verstehen. Dabei ist die Hermeneutik von entscheidender Bedeutung, denn die Äußerungen des Geistes sind nicht unmittelbar, sondern nur über die Interpretation zugänglich.

Lessing macht in einem der Aufsätze deutlich, dass es sich bei den Grundannahmen der Theorien Diltheys und des wiederentdeckten Kulturphilosophen Ernst Cassirer trotz Parallelen auch um unterschiedliche Konzepte handelt: Cassirer kritisiere an Diltheys Theorie, dass er zu sehr in der Tradition des Psychologismus stehe. Eine empirische Psychologie reiche nicht aus, um die menschliche Kultur in und an geistigen Objekten zu interpretieren; wir hätten es mit "Formen" zu tun. Die Aufgabe der Philosophie sei es, die "Formenwelt der Sprache, der Kunst [...] zu verstehen, um in die "einzelnen sprachlichen, religiösen [...] Gebilde eindringen" zu können. So werde es möglich, von den bloßen "Tatsachen der Geisteswissenschaften" zu den "Prinzipien, zu den Bedingungen ihrer Möglichkeit" vorzudringen. Lessing kritisiert nun seinerseits, dass Cassirer nicht radikal genug sei, um sich von Kant zu trennen und Diltheys Einsicht zu folgen, dass "Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft nicht nur zwei unterschiedliche Formen von Wissenschaft sind, sondern vielmehr als Wissenschaften unterschiedlich sind". Cassirer lasse stattdessen den "fundamentalen Unterschied von geistes- und naturwissenschaftlicher Erkenntnis im Einheitsgrund einer symbolischen Form Wissenschaft verschwinden".

Insgesamt sind die Bände hervorragend zu lesen und sehr zu empfehlen. Hier zeigt sich die Kenntnis eines Experten, der dem Leser einen Zugang zur Philosophie Wilhelm Diltheys eröffnet, der - wie die Aufsätze zur Dilthey-Rezeption zeigen - auch für andere Denker von zentraler Bedeutung war und für das Selbstverständnis der Kultur(-wissenschaften) angesichts des bis in die Schulbücher hinein um sich greifenden Naturalismus gerade heute höchst aktuell ist.

Stefan Düfel


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