Rainer Waßner (Hg.)

Gestalt und Gestalten der Soziologie in Hamburg

120 Jahre Wissenschaft vom Sozialen

Rezension


Die Gründung der Universität Hamburg 1919 setzt einen wichtigen Markstein in der Geschichte der Soziologie in Hamburg, deren Vollendung die Errichtung eines soziologischen Lehrstuhls 1926 darstellt. Gleichwohl wurde in der Hansestadt bereits 30 Jahre zuvor Sozialwissenschaft betrieben. Der Begründer der Soziologie in Deutschland, Ferdinand Tönnies (1855 - 1936), lebte im letzten Jahrzehnt des 19.Jahrhunderts in Hamburg und führte dort wichtige empirische Untersuchungen durch. 1887 hatte Tönnies sein Grundwerk Gemeinschaft und Gesellschaft (GuG) veröffentlicht, bei dem er den soziologischen Sinn vor Augen hatte, "und dieser hat Gegenbild und Analogie in der Theorie des individualen Willens." (GuG, S.6). Die menschlichen Beziehungen sind demnach sozial, wenn sie gewollt und bejaht sind, sei es mit dem Wesenwillen oder mit dem Kürwillen. Und, wie Leopold von Wiese es hervorgehoben hat, "Das geschah durch Tönnies in einer Zeit, wo Spencers Biologismus und Organizismus herrschte und Historiker, Juristen und Nationalökonomen (...) ihre wissenschaftliche Teilnahme einseitig dem Staate zuwandten". In Hamburg führte Tönnies erste Untersuchungen zur Kriminalität und zum Hafenarbeiterstreik durch. Das Buch Gestalt und Gestalten der Soziologie in Hamburg hebt mit diesen Erhebungen an und reicht bis in die Gegenwart. Sieben Autoren schildern am Beispiel maßgeblicher Repräsentanten das Werden und Wesen Hamburger Soziologie. Es sind dies Rainer Waßner, Alexander Deichsel, Gregor Siefer, Gerhard Kleining, Nikolay Golovin, Torsten Sturm, Eckart Krause und Bernd Thuns. Sie berichten von Ferdinand Tönnies, Andreas Walther, Hans Domizlaff Helmut Schelsky, Heinz Kluth, Janpeter Kob, Christa Hoffmann-Riem, Klaus Eichner, aber auch über die Soziologie nach 1945, den Mythos der 68er und die Hamburger Soziologie, den Alumni-Verein Hamburger Soziologinnen und Soziologen, den "Pferdestall" und die Orte der institutionellen Soziologie an der Universität Hamburg Die Beiträge sind aus Vorträgen und Wiederveröffentlichungen hervorgegangen und belegen eine Vielzahl von koexistierenden Perspektiven auf das Soziale im Verlauf einer langen Geschichte der Soziologie in Hamburg, die die Kontinuität soziologischen Arbeitens bezeugt. Wie der Herausgeber erläutert, "hat (sie) keine Schulbildung im engeren Sinne, wie etwa in Frankfurt, Köln oder Leipzig, hervorgebracht. Unter einem Dach versammelte sich ein ganzes Spektrum von Methoden, selbstgestellten Aufgaben, Konzeptionen, Denk- und Handlungsorientierungen. Ihre Einheit hatte diese Pluralität in den Leistungen ihrer persönlichen Repräsentanten, die allesamt vom Kernproblem des Sozialen ihren Ausgang und Wieder-Eingang nahmen, dessen Eigenart und Beschaffenheit, Bedingungen und Konsequenzen sie untersuchten". Gemeinsam ist ihnen der Blick auf die Individualität sozialer Tatsachen ("Gestalt") und der Verzicht auf Ideologie und Heilswissenschaft.

Zur Verlebendigung des Textes tragen der Verzicht auf Fachjargon ebenso bei wie die Abschnitte über die Bedeutung des universitären Institutsgebäudes, die Selbstdarstellung der Absolventenvereinigung, die zeichnerisch gelungenen Porträts der vorgestellten Wissenschaftler, sowie die Abschnitte über die Studiensituation seit 1950. Das historische, wissenschaftliche und politische Umfeld ist, wie man erwarten darf, immer präsent. All diese Beiträge sind geeignet, der neuen Generationen von Soziologen ein Gedächtnis ihrer Wissenschaft anzulegen. Kurz: ein grundlegendes Buch zur Soziologie in Hamburg

Ana I. Erdozáin


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